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Probenfoto „Das Ende des Regens“,
Foto: Thilo Beu

Das Individuum baumelt alleine im Kosmos

03. Dezember 2010

Klaus Weise inszeniert „Das Ende des Regens“ in Bonn - Theater-Premiere 12/10

choices: Herr Weise, australische Dramatik ist eher selten auf deutschen Bühnen. Was reizt Sie an den Stücken von Andrew Bovell?
Klaus Weise: Ich halte Bovell für einen Autor, der seine Stücke mit einer formalen Raffinesse baut wie sonst kaum ein Dramatiker. Wir haben 2003 „Lantana“ in Bonn herausgebracht, in dem sich Ehepaare in nebeneinanderliegenden Hotelzimmern mit einer fast kongruenten Sprache betrügen. Es hat mit dem objektiven Verlust von Individualität zu tun, der uns erfasst, obwohl jeder sich für einzigartig hält. Wenn man dann sieht, wie in den Zimmern fast symmetrisch das gleiche abläuft, dann sind das ein Lustgewinn und eine schmerzhafte Komödie zugleich. Es erinnert an Tschechow, dessen Stücke die Bezeichnung Komödie tragen, obwohl die Personen darin leiden und mit ihren Lebensplänen scheitern.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Bovell und Tschechow?
Tschechow erfasst deutlicher das Seelenleben der Figuren und findet dafür eine genauere Sprache. Zeitgenössische Autoren sind geschult an Fernsehserien und Filmdialogen. Ähnlich wie Neil LaBute bringt auch Andrew Bovell interessante Konflikte mit einer alltäglichen Sprache auf die Bühne. Für den Regisseur und die Schauspieler ist es wichtig, diesen einfachen Texten eine zusätzliche Tiefe an Empfindung zu geben, ohne sie mit Bedeutung zu überfrachten. Man muss gelebtes Leben auf die Bühne bringen.

In „Das Ende des Regens“ verbindet sich das Leben von zwei Familien über vier Generationen von 1959 bis 2039 hinweg. Worin liegt das Spannende dieser Konstruktion?
Bovell verzahnt die Geschichten der Familien Law und York miteinander und stellt Personen auf die Bühne, die Ähnliches erlebt haben. Eine gebrochene Identität; ein Kind, das nicht erwünscht war; Ehen, in denen sich Abgründe auftun; eine Welt, in der es regnet und es keine Fische mehr gibt. Am Ende wird ein Vater von seinem Sohn besucht, um den er sich jahrelang nicht gekümmert hat, und damit beginnt auch das Stück. Bovell zerschneidet und collagiert diese linear erzählbare Geschichte und behauptet so Zusammenhänge, die über 80 Jahre reichen. Durch die Verzahnung werden Muster erkennbar, und die Einzigartigkeit relativiert sich.

Es gibt bestimmte Motive wie den verlorenen Hut, einen neuen Mantel, die Fischsuppe oder Redewendungen, die immer wieder auftauchen. Ist die Wiederkehr des Immergleichen hier zum Lebensprinzip geworden?
Es gibt in Bovells Stück ein serielles Moment, das einer zeitgenössischen Wahrnehmung entspringt. Wir halten uns für individuell und glauben an das Versprechen der individuellen Freiheit – und gleichen darin unserem Nachbarn, den wir gar nicht wahrnehmen. Das ist schon tragikomisch. Es geht also um das Verhältnis zwischen der Austauschbarkeit, die im Seriellen liegt, und dem individuellen Aufbegehren dagegen.

Kann man trotzdem von einer Familiengeschichte sprechen?
Unbedingt. Darum geht es im Kern: Wie jeder einzelne von ihr geprägt ist, auch wenn er nie, oder nur sehr kurz eine wirkliche Familie kennengelernt hat. Und trotzdem, oder eher gerade deshalb sehnen sich alle nach familiärer Zugehörigkeit, suchen ihre Identität. Familienbande reißen eben nicht, bestimmen, manchmal verborgen, unser Leben. Söhne suchen ihre Väter, Mütter verlassen ihre Töchter - und sie tragen die Familiengeschichte in die nächste Beziehung, denn es geht natürlich auch um erotische Anziehung. Ohne Erotik keine bürgerliche Familie, das ist ja ein biologisches Gesetz ...

Die Figuren sind allerdings gesellschaftlich kaum zu verorten.
Wir wissen nicht, welchen Beruf die Figuren haben, in welcher Gesellschaft sie leben. Man erfährt auch nicht, wie sich die Gesellschaft entwickelt hat zwischen 1959 bis 2039. Ich weiß im Moment auch noch nicht, wie die Kostüme des Jahres 2039 aussehen sollen.

Zu Beginn fällt der Satz „Die Vergangenheit ist ein Rätsel“. Welche Rolle spielt die Vergangenheit für die Figuren?
Es gibt zwei Arten der Vergangenheit im Stück. Zu einen eine Vergangenheit, die man verdrängen muss. Als die Ehefrau feststellt, dass ihr Mann Päderast ist, schickt sie ihn weg, um den Sohn vor einem Unglück zu bewahren. Sie verdrängt dann alles, was damit zu tun hat. Das evoziert ein Nachholbedürfnis auf Seiten des Sohnes, der die eigene Biographie verstehen will. Woher komme ich? Weshalb ist der Vater weggegangen? Dass man sich nicht in den Bezug stellen kann, ist etwas, was Menschen sehr schwer fällt. Der zweite Vergangenheitsbegriff bezieht sich auf das Buch „Aufstieg und Fall des Amerikanischen Imperiums 1975-2015“, das Gabriel York liest, und in dem die Frage aufgeworfen wird, welche Gesellschaft sich im Jahr 2039 herausgebildet hat. Das erfahren wir nur atmosphärisch. Man hat das Gefühl, es ist eine postdemokratische und postbürgerliche Welt. Keine tolle Welt.

Am Ende schenkt dieser Gabriel seinem Sohn einen Koffer mit Erinnerungsstücken, von denen er nicht mehr weiß, was sie bedeuten.
Das ist gelebtes Leben, das man wie ein Ethnologe des Alltags interpretieren muss. Oder wie ein Fotograf durch ein Entwicklungsbad ziehen muss, damit Bilder und Geschichten herauskommen. Wenn die Weitergabe von Geschichten und auch die Beziehungen sich völlig auflösen, verschwindet die Identität natürlich. Das Individuum baumelt dann allein im Kosmos. Insofern wird da schon eine Isolation beschrieben. Man versucht als Regisseur natürlich trotzdem, jede Figur mit Leben zu erfüllen.

Zu Beginn fällt ein Fisch vom Himmel, es regnet permanent, und eine Flut kündigt sich an. Die christlichen Symbole im Stück sind unübersehbar.
Wenn es permanent regnet, entwickelt sich irgendwann eine Sintflut. Die Welt ist also eine verderbte, und sie soll ausgelöscht werden. Die Menschen haben ihre Chance, sich zum Guten zu entwickeln, nicht wahrgenommen. Der ewige Regen ist dafür ein Bild. Dann gibt es das christliche Motiv des Fisches, der zu Beginn einem Mann vor die Füße fällt. Man könnte sagen, der Allmächtige hat ihm dieses Geschenk gemacht, und er soll jetzt etwas daraus machen. Und der Mann fragt: „Wieso ausgerechnet ich? Das ist mir alles zu viel. Ich bin mit dieser göttlichen Sendung, so es denn eine ist, überfordert.“ Da besitzt das Stück eine christlich-metaphysische Dimension, die ich interessant finde. Ob sich das erzählt, weiß ich noch nicht.

„Das Ende des Regens“ von Andrew Bovell I R: Klaus Weise I Theater Bonn – Halle Beuel I 10.(P)/17./19./22.12, 19.30 Uhr, I 0228 77 80 08

INTERVIEW: HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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