Die Füße tupfen ein Aquarell aufs Parkett, die Arme wuchern wie Ranken empor. Bendix Grünlich (Matthias Breitenbach) verschraubt sich, als ob sich sein Körper selbstständig gemacht hätte. Der hochstaplerische Kaufmann wirbt um Tony Buddenbrook (Johanna Falckner). Die Tochter des angesehenen Konsuls ist von dieser neofeudalen Schlingpflanze angewidert und verguckt sich verständlicherweise in den mit Schiebermütze und Strickjacke ziemlich burschikosen Burschenschaftler Morten (Philipp Basener) – die Liebe ihres Lebens. Doch daraus wird nichts.
Sandra Strunz akzentuiert in ihrer Inszenierung von Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks“ (Fassung: John von Düffel) am Theater Bonn mit kräftigen Strichen die unheilvolle Verquickung von privatem Glück, ökonomischen Grundsätzen und historischer Tradition. Das soigniert-joviale Familienoberhaupt Jean Buddenbrook (Wilhelm Eilers) sowie seine Söhne Thomas und Christian repetieren Lehrbuchwissen über Erfolg, Leistung und Karriere. Sätze, die eher ein Mantra der Selbstdisziplinierung als eine gelebte Rezeptur bürgerlichen Wohlstandes darstellen. Thomas (Glenn Goltz) gibt dem verzweifelten Blumenmädchen Anna den Laufpass, Tony heiratet schließlich den späteren Bankrotteur Grünlich, indem sie ihre Heirat als geschichtliche Aufgabe der Buddenbrookschen Tradition interpretiert – und sich schließlich in die Tanzformation der Familie einreiht.
Sandra Strunz interessiert sich kaum für die Figuren der Buddenbrooks als Individuen. Der Abend im Theater Bonn ähnelt eher einer Familienaufstellung unter kapitalistischen Bedingungen mit besonderem Augenmerk auf den Körper. Die zentrale Metapher dafür ist der Tanz. Schon die halbrunde, vertäfelte Bühne (Ausstattung: Sabine Kohlstedt) ähnelt einem Tanzsaal. An der Wand gesäumt von einem erhöhten Umgang mit Geländer, aus dem sich mehrere Säulen erheben – ein Ort der Begegnung, aber auch der Beobachtung. Das Ensemble und zahlreiche Statisten bewegen sich im Walzerschritt übers Parkett, gruppieren sich zu kleinen Formationen und auch einem Duo – musikalisch schräg unterstützt von Karsten und Rainer Süßmilch (Harmonium, Posaune, Trommel, Glockenspiel etc.). Wie sich Tanz und der Niedergang einer Gesellschaftsschicht koppeln lassen, hatte Luchino Visconti 1963 in seiner Verfilmung von „Der Leopard“ mit einer halbstündigen Ballsequenz am Ende genial vorgeführt. Sandra Strunz aber will mehr. Mit Hilfe der Choreografin Lisi Estaras verweist sie auf die Codierung des Körpers im gesellschaftlichen Kontext und die Disziplinierung des individuell-leiblichen Ausdrucks. Da tanzt die Familie Buddenbrook zu „Carmen“-Klängen und zeigt, wie sich Leidenschaft in eine akzeptierte Form pressen lässt. Vater Jean biegt den Körper seiner Tochter Tony, bis sie sich fügt.
Tanz ist hier einerseits Metapher einer gesellschaftlichen Kommunikation und Konvention, aber auch Zwangssystem. Er kann aber auch Totentanz sein, wenn Jean sich mit einer schwarz gekleideten Frau bis zum Zusammenbruch dreht. Beim schwarzen Familienschaf Christian (Alois Reinhardt) dagegen gerät der späte Protest zur Pantomime, wenn er lächerliche Kunststücke mit dem Teppich vollführt oder im Kontor neben Thomas am Stehpult herumgrimassiert. Strunz führt – bei aller gelegentlichen Komik – eine kalte Sektion durch, der Tanz ist das inszenatorische Desinfektionsmittel, das alle Anflüge von Psychologie und individuellem Figurenschicksal, aber auch die emotionale Teilnahme unterbindet. Im zweiten Teil wiederholt sich das große Tanzritual zu Thomas Hochzeit mit Gerda, ihr Sohn Hanno spielt mit singender Säge, Tony heiratet den jodelnden Herrn Permaneder. Verfallserscheinungen. Am Schluss löst sich zu Klothildes moralinsaurem Wutgeschrei über neoliberales Wirtschaften das Bühnenbild auf. Das Ensemble steht in Unterwäsche da und zappelt wie in Einars Schleefs Interpretation von Elfriede Jelineks „Sportstück“: Die Körper agieren mechanisiert und unterliegen völlig dem Leistungsgedanken und der Optimierung. Weh dem, der jetzt noch unbefangen tanzt.
„Die Buddenbrooks“ | R: Sandra Strunz | 2., 7., 16., 22.12. je 19.30 Uhr, 26.12. 18 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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