choices: Herr Sostmann, Sie arbeiten mit Puppen und Schauspielern. Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob sich ein Stück dafür eignet oder nicht?
Moritz Sostmann: Der Einsatz vonPuppen sollte einen neuen Blick auf den Menschen zulassen, deshalb eignen sich psychologische Stoffe besonders gut. Man kann die psychologischen Vorgänge in einer Einfachheit und Offenheit spielen, die einem Schauspieler versagt bleiben, weil er sofort unter Kitschverdacht geraten würde. Und ich suche Stoffe danach aus, inwieweit sich durch die zwei Bühnenexistenzen der Puppe und des Schauspielers poetische Bilder ergeben. Bei „Amerika“ ist das relativ einfach: Mit der Hauptfigur Karl Rossmann wird immer wieder etwas gemacht, er wird herumgeschubst und vorangestoßen und auch die Puppe kann ja nichts alleine tun. Man muss mit ihr etwas machen. Der Grundgedanke ist also, eine Puppe, die im Zentrum steht und um die sich alles dreht, gegen einen Haufen Menschenfiguren antreten zu lassen.
Worin liegt die Herausforderung, Karl Rossmann als Puppe gegen Schauspieler antreten zu lassen?
Es reizt mich, die anderen Figuren, die eher groteske Charaktere und auch nur scherenschnitthaft angerissen sind, von Menschen spielen zu lassen. Also der Heizer wirkt wie ein riesenhaftes Monster oder die Landstreicher sind eigentlich Klischees von Landstreichern. Wenn man das alles mit Puppen spielen würde, landete man schnell im Illustrativen. Bei den Proben zeigt sich plötzlich, dass die Puppe das einzig lebendige Wesen innerhalb dieser kruden und grotesken Welt ist.
Was bedeutet es für die Schauspieler, mit Puppen agieren zu müssen?
Es gibt Schauspieler, denen fällt das leicht. Bruno Cathomas, der jetzt in „Amerika“ dabei ist, tut sich da etwas schwer. Auf der einen Seite sind Puppen schneller, auf der anderen Seite ermöglichen sie wenig Spontaneität in den körperlichen Aktionen. Es muss viel abgesprochen werden. Bruno Cathomas ist ein sehr körperlicher Schauspieler, der über eine hohe Emotionalität lebt und sich jetzt immer beherrschen muss. Das schränkt ihn etwas ein.
Bei „Sezuan“ waren gerade die kapitalistischen Figuren mit Schauspielern ohne puppenhaftes Alter Ego besetzt. Bei „Amerika“ scheint das ähnlich zu sein.
Es ist natürlich leichter, eine Puppe gern zu haben als einen Menschen. Da gibt es nicht so viele Probleme (lacht). Puppenspiel ist wie Urlaub vom Menschsein. Man schaut seine eigene Spezies wieder mit mehr Sympathie und mehr Wohlwollen an.
Kafka war nie in Amerika, sein Roman basiert auf Reiseberichten und Zeitungsartikeln. Was ist das für ein Land, das er da beschreibt?
Ich glaube, dass das viel mit Kafkas jüdischer Herkunft, mit dem Aufstieg des osteuropäischen Judentums und der Assimilation in die mitteleuropäische bürgerliche Gesellschaft zu tun hat. Es gab viele, die an dem Widerspruch zwischen der eigenen Tradition und der neuen Zeit gescheitert sind oder es wirtschaftlich nicht geschafft haben. Amerika war immer der Ausblick auf ein vermeintliches Paradies, wo sich alle Widersprüche lösen würden. Gleichzeitig wurde aber bekannt, dass es auch in Amerika nur ein Bruchteil geschafft hat, glücklich zu werden. Der Roman beginnt mit dem Erscheinen der Freiheitsstatue, die bei Kafka keine Fackel, sondern ein Schwert in der Hand hat. Ich glaube, dass das kein Fehler ist, sondern Absicht. Freiheit kann auch etwas Bedrohliches und Beängstigendes haben und nicht nur etwas Positives.
Was steht für Sie im Zentrum des Romans?
In „Amerika“ suchen alle Figuren nach einem lebendigen Gegenüber, an dem sie sich festhalten können. Es gibt keine von oben gesetzte Ordnung wie in den späteren Romanen. Das ist fast ein kleines Sittengemälde, aber natürlich ist es auch ein Roadmovie. Für mich steckt da eine Fahrt durch die heutige westliche Gesellschaft drin: Von der großbürgerlichen Welt des Onkels und der triebgesteuerten Atmosphäre bei Herrn Pollunder bis zur strengen Arbeitshierarchie im Hotel Occidental. Im Prinzip ist das ein Querschnitt all dessen, was wir alles tun, um in dieser freien Gesellschaft überleben zu können.
Ein Roadmovie bedeutet ja auch die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen.
Rossmann zieht nicht immer weiter, er wird fortgestoßen. So wie ihn das Hausmädchen quasi vergewaltigt, schicken ihn seine Eltern nach Amerika oder verstößt ihn danach sein Onkel in New York. Karl versucht sesshaft zu werden, wird aber weiter geschubst. Trotzdem verzweifelt er nicht daran, wird nicht mal wehleidig, sondern steht immer wieder auf und nimmt das Leben, wie es ist. Charlie Chaplin und Buster Keaton haben also ihren Kafka gelesen. Gleichzeitig verfügt Karl Rossmann über ein großes Gerechtigkeits- und Moralempfinden, kriegt aber trotzdem die Welt nicht als eins gedacht. Das ist wirklich zauberhaft.
Warum haben Sie für „Amerika“ mit Hagen Tilp einen anderen Puppenbauer gewählt als bei „Sezuan“?
Das Besondere an Hagen Tills Puppen ist die Kostbarkeit des Materials. Die Köpfe sind in einer Art Kunstharz gegossen, der die Anmutung von Porzellan hat. Wenn man dichter heran geht, entsteht der Eindruck von mehreren Hautschichten. Hagens Puppen wirken wesentlich naturalistischer als die von Atif Hussein. Da Rossmann die einzige Puppe bleibt, wenn auch in drei verschiedenen Größen, wollte ich ihm eine kostbare Anmutung geben, so dass man sich fast scheut, ihn anzufassen.
Wie gehen Sie mit dem Raum im Depot 2 um, das eigentlich zu groß für Puppen ist?
Anders als bei „Sezuan“ haben wir jetzt eine große Plattform auf einem Meter Höhe und eine extrem nah an die Zuschauer herangezogene Rückwand entworfen, so dass wir das Geschehen fast wie auf dem Tablett präsentieren können. Das ist quasi die größte Puppenbühne der Welt mit 16 Metern Breite.
Sie sprachen von einer kruden, grotesken Welt. Worin genau liegt die Komik in „Amerika“?
Vor allem im Text. Wie Kafka die Szene mit dem Dienstmädchen beschreibt, die Karl ins Bett schleppt, ihn langsam auszieht und mit ihm zu schlafen versucht, ist unglaublich komisch. Wir werden versuchen, der Komik in diesen Situationen auf die Schliche zu kommen und sie auch zu vergrößern.
Welche Rolle spielt für Sie die Komik generell im Umgang mit Puppen?
Wenn man 44 Jahre alt ist und immer noch mit Puppen spielt, kann man das nur mit einer Portion Selbstironie tun. Sonst würde ich mir merkwürdig vorkommen.
„Amerika“ | R: Moritz Sostmann | 6./8./20./23./28.12. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 28400
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