Die Dimensionen, die die Kölner Theaternacht in diesem Jahr angenommen hat, können sich sehen lassen: 200 Vorstellungen an 44 verschiedenen Spielorten auf 50 Bühnen, sowohl links- wie rechtsrheinisch, zeigten einen beeindruckenden Querschnitt durch die Vielfalt der hiesigen Theaterlandschaft. Angefangen bei Shakespeare und Brecht'schen Klassikern, über reflexive Gegenwartstheater und Performance-Künste, reichte am Montag die Palette bis hin zu launigem Boulevardtheater, Comedy und Kabarett – zeitsparend zurechtgestutzt auf etwa halbstündige Ausschnitte, die jeweils zur vollen Stunde begannen. Obwohl der Start prinzipiell an jedem Ort möglich war, begann die Nacht für viele Besucher am festlich ausgeleuchteten Heizkraftwerk in der Südstadt, das allein vier Bühnen beherbergte.
Nur ein paar Meter die Straße runter fand sich das Freie Werkstatt Theater, das sich mit seiner Eigenproduktion „Last Night in Sweden“ eng am Zeitgeschehen bewegte. Der Titel greift ein Zitat von Donald Trump auf, der bei einer Versammlung seiner Anhänger von einem terroristischen Vorfall in Schweden am Tag zuvor schwadroniert hatte – nur, dass an diesem Tag in Schweden gar nichts passiert war. Diese eine der vielen Falschaussagen des US-Präsidenten hatte das Ensemble zum Ausgangpunkt einer Reflexion über das Verwischen von Fakt und Fiktion genommen, das von der Sphäre des Theatralischen auch in Politik und Gesellschaft Einzug gehalten hat. Während Anton Schieffer weißgeschminkt als mephistohafter Derwisch der Lüge das Wort redete, sehnte sich Fiona Metscher nach einem „echten Moment“ wahrer Gefühle auf der Bühne – vergeblich, denn wie der nach Art der Zeremonienmeister der inszenierten Showkämpfe des US-Wrestling in einen knallroten Anzug gewandete Gerhard Seidel feststellte: „It's all an Illusion.“
Zur Tradition der Veranstaltung gehört es auch, dass sich Theatergruppen aus der gewohnten Umgebung der Bühnen herauswagen und sich an eher ungewöhnlichen Orten ausprobieren. So etwa auch im Deutschen Sport- und Olympiamuseum, wo der Schauspieler Thomas Wissmann in „Verbockt“ im Alleingang demonstrierte, dass auch eine Veranstaltung wie die Theaternacht nicht am Kölner Lokalpatriotismus vorbeikommt. In seiner Rolle als verschrobener Museumswächter führte er die Besucher durch das Museum bis zum geheimnisvollen Exponat – einem unheiligen Hybriden aus den Trikots des 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach. Mit einem Augenzwinkern berichtete er von den Reaktionen fundamentalistischer Fans, angesichts dieser Provokation.
In der Zentralbibliothek am Neumarkt wurde hingegen einer weiteren Kölner Lokalgröße gedacht, nämlich Heinrich Böll: Markus Tomczyk vom Performance-Duo Tripletrips hatte im Vorfeld Gespräche mit Bölls Sohn, dem Künstler René Böll, über das Leben der Familie geführt, aus denen er mit Studierenden der Theaterakademie die Performance „Einsichtböll“ in zwei Teilen entwickelt hatte: Im großen Saal des Erdgeschosses fanden sich die Zuschauer unverhofft zum Objekt der Aufmerksamkeit gemacht wieder, als sie, in der Mitte des Raumes zusammengepfercht, von den Schauspielern mit aufgezwungener Nähe und forschen Fragen bedrängt wurden. Im zweiten Schritt folgte dann vor der Kulisse von Bölls Arbeitszimmer ein kathartischer Moment von innerer Einkehr und Ruhe. „Diese Zweiteilung ist ein Ausdruck der Diskrepanz der Erfahrungen von Böll und seiner Familie: Auf der einen Seite die Bedrängung durch Justiz, Presse und Fans, auf der anderen die Privatheit, die Böll nur außerhalb Deutschlands, etwa in Irland, fand“, beschrieb Tomczyk die Idee der Performance.
Einer Veranstaltung wie der Theaternacht wohnt immer auch eine gewisse Tragik inne: Ganz gleich, wie man es dreht und wendet, man schafft nur einen Bruchteil der Veranstaltungen auch wirklich wahrzunehmen. Wer daher nach Mitternacht seinen Hunger nach Kultur immer noch nicht gestillt hatte, fand im Bürgerzentrum Ehrenfeld einen Rückzugsort zum gepflegten Versacken. Hier hatten die Entertainer Gerd Buurmann und Tobias Weber zum Theatermarathon eingeladen, der bis um vier Uhr morgens dauern sollte. Zu vorgerückter Stunde konnte man etwa den Gründer der Reihe „Escht Kabarett“, Christian Bechmann, erleben, wie dieser zu einer leidenschaftlichen Schimpftirade gegen die sonntägliche Tatort-Kultur ansetzte. Die beiden Moderatoren nahmen's gelassen, sie prosteten sich derweil mit Flimm zu.
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