Imagine there's no Heaven - It's easy if you try
Das erste was zu hören ist, sind knallende Kiesel. Dann wandern die Protagonisten durch das Publikum auf die Bühne, die voller Lumpen ist, ein ausgeschütteter Kleidercontainer vielleicht. Dagestan ist kein Ort des Glücks, mitten im Kaukasus, die Vielvölkerrepublik, in deren Nähe 2014 die Olympischen Winterspiele stattfinden, wo Rebellen und Kriminelle täglich Gräuel verüben, wo Korruption und Gewalt das Leben beherrschen. Milana und Nurjana Magomedova kommen von dort, sind geflohen, haben es nach Deutschland geschafft, Abitur gemacht, wollen Raumdesignerin und Architektin werden, jetzt stehen sie in den Kleiderhaufen des Lampenlagers des Bonner Theaters und transportieren ihre Geschichte. „Heimat (n)irgendwo“ heißt das dokumentarische Theaterstück um Heimat und Vertreibung, um Flucht und kulturelle Identität.
Nothing to kill or die for - And no religion too
Und so werden und wurden sie alle irgendwie vertrieben aus den Ländern, die ihr Zuhause beherrbergten zwischen Dagestan und der Lausitz. Alle haben ihre ureigene Geschichte, Sprache und Identität. Alle suchten sie Sicherheit und Ruhe. Regisseurin Marita Ragonese hat es nicht leicht gehabt, die unterschiedlichen Aspekte der Migration von Menschen dramaturgisch zu verbinden. Sie setzt konsequent auf die sympathische Unbeholbeholfenheit, die Laien auf der Bühne entwickeln, ohne dass ihnen das als Manko zugeschrieben werden müsste. Nach den ersten zehn Minuten des professionellen Unwohlseins entwickelt sich die Stunde zu einem interessanten, freundlichen Lehrstück, dessen Choreografie mit Tänzen, Gesängen und Stabpuppen eine einfache Struktur erhält.
You may say I am a dreamer - But I'm not the only one
Im Zentrum stehen die beiden jungen Frauen, deren Schicksalsreise haarsträubend war. Über Prag und Wien nach Deutschland, konfrontiert mit völliger Durchleuchtung und Verständigungslosigkeit, haben sie die Heimat verlassen, wo früher alles anders war, als noch nicht die Islamisten marodierten. Oma und Tanten mussten nie ein Kopftuch tragen, obwohl sie natürlich Muslime waren. Um sie herum gruppieren sich die Vertriebenen des Ostens. Der Pole, die Thüringerin, das DDR-Flüchtlingskind und Kathrin Krumbach, die Mitarbeiterin der Stabsstelle für Integration Bonn. Alle leiden unter dem babylonischen Sprachgewirr zwischen Bonn und Dagestan. Marita Ragonese lässt die Sprachmelodien austauschen, die sich so fremd anhören und klingen, da macht es keinen Unterschied mehr, ob du aus dem Kaukasus oder dem Thüringischen kommst, gemeinsam malen sie die den Fluchtweg der Schwestern auf eine durchsichtige Plexiglaswand.
I hope someday you'll join us - And the world will be as one
Zum Schluss propagiert man noch die Statements gegen die formalisierte Gleichgültigkeit, die Menschen statt zu Freunden zu Fremden macht, die Meere und Mauern überwinden müssen, nicht um sich zu bereichern, sondern um erst einmal zu überleben. Grenzen sind Barrieren gegen Menschen, bewachte Zonen auch ohne Mauern. Und die müssen weg, ruft Lech Matusiak, der aus dem kommunistischen Polen floh, ins Publikum. Ja, wenn das so einfach wäre. Dann geht das Licht aus und Agenturfotos aus Afrika werden zur Diaschau der Menschenverachtung. Aktuell auch in Misrata, Lybien, Lampedusa und Valetta auf Malta. Dazu singt John Lennon sein „Imagine“.
„Heimat (n)irgendwo“ von Marita Ragonese I R: Marita Ragonese I Theater Bonn I Weitere Termine in der nächsten Spielzeit I 0228 77 80 08
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