„Let’s fight!“ sind die Worte, mit denen Theaterleiterin Bettina Montazem den streitfreudigen Theater-Abend einläutet und das Publikum ganz im Sinne demokratischer Manier zu einem Streitgespräch im Anschluss der Vorführung einlädt. Bereits der eingangs zitierte Ausruf lässt den grotesken Charakter des Stücks erahnen und nimmt direkt zu Beginn der ersten Szene volle Fahrt auf. Und von da an gibt es kein Halten mehr für die drei Schauspieler, die mit ihrer fulminanten Spielart von Sekunde eins an brillieren.
Sieben aneinandergereihte kurze Szenen führen dem Publikum auf teilweise sehr humoristischem Wege die ungeschönte Wahrheit und das tägliche Scheitern unserer Demokratie vor Augen. Urkomisch und doch verblüffend ernst, sodass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Am Ende erreicht das Stück jedoch genau das, was den Theaterbesuch laut des spanischen Autors Esteve Solers vielleicht sogar auszeichnet: Im Anschluss nicht schlafen gehen, sondern diskutieren und streiten wollen!
Was für ein Glück, dass die Zuschauer sich aufgrund des herbstlichen Wetters für ihren Theaterbesuch mit Regenschirmen gewappnet haben. Denn kurz nachdem das Stück begonnen hat, wird in der ersten Zuschauerreihe schon ein Regenschirm aufgespannt. Anlass dafür sind die berstenden Wasserbomben auf der Bühne, die die geplatzte Fruchtblase eines Schauspielers imitieren sollen. Ja, richtig gehört. Ein männlicher Schauspieler, der eine gebärende Frau spielt. So verdreht bereits diese Tatsache erscheint, so geht es noch weiter. Heraus kommt nämlich kein Menschenkind, sondern eine Spinne, die als dystopisches Symbol für eine drohende Zukunft ihre Eltern auffrisst.
Nachdem die Verblüffung beim Publikum bereits groß ist, beschließen die Schauspieler daraufhin, in einem Mega-Bordell ihr eigenes Volk heranzuzüchten. Dann wird der eigene Sohn von einem Ehepaar erschossen, nachdem sie ihm beichten, er sei infolge eines coitus interruptus gezeugt worden und eigentlich nicht gewollt. Denn: „Ehrlichkeit geht doch über alles“ und Personalabbau sei ja auch so ein wichtiges Thema heutzutage.
Besonders kontrovers wird es, als die afghanische und voll verschleierte Farah auf die Bühne tritt und furchterfüllt beichtet, sie habe ihren Mann umgebracht und ihr stehe nun eine Gefängnisstrafe bevor. Sie habe besonders Angst davor, ihre Burka ablegen zu müssen, die einen großen Teil ihrer Kultur ausmache.
Mit ihren blutverschmierten geöffneten Händen, die sie als einzig sichtbare Körperteile vor sich empor hält und die ein starkes Bild liefern, wird diese Szene einen wichtigen Teil im späteren Streitgespräch bilden.
Jedoch stellt sich nicht nur das Publikum an diesem Abend die Frage, ob es in unserer heutigen Zeit politisch vertretbar und notwendig ist, eine weiße Schauspielerin, verkleidet mit einem so kontroversen religiösen Kleidungsstück wie der Burka zu zeigen. Doch nach den jüngsten Ereignissen und Entwicklungen in Afghanistan, die das Ensemble während der Proben für das Stück erreichten und überwältigten, war Theaterleiterin Montazem überzeugt: Jetzt erst recht!
Es gibt zweifellos weder eine Antwort darauf, ob dies richtig ist oder nicht, noch waren sich Publikum, Autor und Ensemble darüber einig. Doch genau das ist die Intention des spanischen Autors. Mit dem Stück wolle er keine Antworten liefern und keinen Konsens finden, sondern die Leute dazu anregen, über ihre widersprüchlichen Reaktionen diskutieren und streiten zu wollen. Dies ist zumindest an diesem Abend in authentischer Begleitung durch das eine oder andere Glas starken spanischen Rotweins definitiv gelungen.
Hätte man zunächst meinen können, zahlreiche jüngste Ereignisse wie die Corona-Krise und die dadurch verstärkt zutage tretenden Verschwörungstheoretiker, Debatten über unser patriarchal geprägtes System oder über Rassismus hätten den Inhaltsstoff für das Stück geliefert, so wurde das Publikum vom Autor höchstpersönlich eines besseren belehrt. Soler schrieb „Gegen die Demokratie“ bereits im Jahr 2007. Montazem spricht genau an diesem Punkt von „der Kraft des Theaters“ und Leuten, die in die Zukunft hinein spüren können und den Puls der bevorstehenden Zeit aufbereiten. Das habe Soler mit seinem hochaktuellen und relevanten Stück unterhaltsam und ausgefallen bewiesen.
Dass solch ein nachhaltiger und anregender Abend überhaupt nach langer Durststrecke der Kulturbranche endlich wieder ohne Masken und Abstände möglich war, ist dem Rettungsprogramm Neustart Kultur zu verdanken. Die Leiterin des Varieté-Theaters mitten im Herzen Ehrenfelds richtet ihren Dank mehrmals an diesem Abend an die vor Ort anwesenden Kollegen dieses Programms. Die deutsche Erstaufführung des Stückes unter der Regie von Adrian Linz sei laut Montazem ein stetiger Prozess und könne dadurch das Publikum immer wieder aufs Neue überraschen. Das bestätigt auch ein Besucher aus dem Publikum, der das Stück bereits zum zweiten Mal ansieht.
In gemütlichem Ambiente bei Wein und spanischen Tapas, lädt das Urania Theater am 13.10. noch einmal zur vorerst letzten Vorstellung des Stückes ein, das definitiv Lust auf mehr kontroverse Gespräche macht. Es lebe die demokratische Streitkultur! Also, let’s fight!
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