Anni hat die Kaffeetafel fertig und umklammert einen Aktenordner, in dem akkurat Beipackzettel von Präparaten gegen Schmerzen, Schlafstörungen und Depressionen abgeheftet sind – Zeugnisse einer Krankheitsgeschichte der Nachkriegszeit. Sigrid hängt im Wartezimmer einer Arztpraxis fest, wo sie nur schnell ein neues Rezept für die Mutter abholen wollte, plötzlich selbst zusammenklappte und nun bleiben muss, bis der Doktor Zeit hat. In der aufgezwungenen Pause vom Alltag denken beide Frauen über ihre komplizierte Beziehung zueinander nach, aber auch über ihre seelischen Leiden, die sich in körperlichen ausdrücken.
Die äußere Handlungsebene in Klaus Fehlings Drama „Risiken und Nebenwirkungen“ ist simpel gehalten, um inneren Prozessen Platz einzuräumen. Den parallelen Monologen der Protagonistinnen gibt Bettina Montazem in ihrer Inszenierung Raum, indem sie auf separaten Rampen sprechen und agieren. Das Bühnenbild (Stefan Maria Jung) symbolisiert treffend die Trennung zwischen den Generationen, aber auch deren Ähnlichkeiten. Die abschüssigen Podeste drohen die Figuren hinunterzuziehen, Jalousien scheinen halbherzig die Vergangenheit auszusperren. Doch unten lauern verdrängte Erinnerungen, die die Regisseurin auf einer Vorderbühne in diffusem Licht wie Flashbacks aufblitzen lässt; kurze, aufwühlende Szenen voller Schüsse, Schreie und Schocks.
Die Überwindung von Kriegstraumata, so erklärt am Ende eine Stimme aus dem Off, brauchten vier Generationen in Frieden. Dass das Gift unverarbeiteter Schrecken auch auf Kinder und Kindeskinder übergreift, vermittelt diese gelungene Fassung des psychologisch packenden Stücks in knapp 70 Minuten auf eindringliche Weise. Die Rolle eines jungen Mannes, der von Anfang an auf der dritten Rampe mit seinem Smartphone spielt oder schläft, bleibt dabei zu lange rätselhaft, um später eher zu verpuffen. Daniel Marrée spielt ihn dennoch gut, so wie auch Suzan Erentok als Tochter überzeugt, die ihre Probleme wegzulächeln versucht, aber körperlich extrem unter Anspannung steht. Fragil und zurückgenommen, aber mit starken und authentischen emotionalen Akzenten gibt Doris Otto eine Anni, die man nicht so schnell vergessen kann.
„Risiken und Nebenwirkungen“ I R: Bettina Montazem I Theater die Baustelle I 19.9./23.10./13./14.11. 20 Uhr | www.theaterdiebaustelle.de
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