choices: Herr Pape, „Der Goldene Drache“ erzählt eine Vielzahl von Geschichten, die alle in einem Haus stattfinden. Dramatische Short Cuts um einen jungen illegalen Asiaten, ein junges Paar, einen Großvater, seine Enkelin oder einen Kioskbesitzer. Was braucht die Inszenierung eines solchen Stücks?
Rüdiger Pape: Das Stück braucht erst einmal fünf sehr gute Schauspieler, die Figuren spielen können und gleichzeitig zeigen, dass sie Figuren spielen. Da verwandelt sich ein älterer Schauspieler in eine junge Frau und kommentiert sein eigenes Spiel. Das hat eine ungeheure Leichtigkeit und stellt zugleich hohe Anforderungen an die Virtuosität der Schauspieler. Denn es sind sehr kleine Bögen, die sie zu spielen haben, ein ständiges Rein in die Figur und Raus aus der Figur. Zugleich erfährt man dabei viel über das Theater und die Einfachheit seiner Mittel: wie man Situationen berührend erzählen kann, ohne in einen illusionshaften Naturalismus zu verfallen. Da tritt zum Beispiel eine Frau nach vorne und sagt: „Der Mann mit dem gestreiften Hemd“ und damit ist doch alles klar. Dann helfe man optisch vielleicht noch mit einem Kostümteil oder einer Haltung nach, und schon steht da der Mann.
Die fünf Schauspieler werden teilweise gegen das Alter und gegen das Geschlecht besetzt. Liegt unter diesem Verfremdungseffekt noch eine andere Bedeutung?
Das Stück arbeitet auch mit den Bildern, die wir uns von Frauen, Männern oder Asiaten machen. Wir haben alle unsere Erfahrungen mit asiatischer Kultur. All das fließt in die Darstellung der Figuren ein. Man muss das auch nicht mit einer großen politischen Korrektheit spielen, finde ich. Da liegt ungeheuer viel Komik drin, wie mit Klischees wie dem, dass Asiaten kein „r“ sprechen können. Trotzdem denunziert Schimmelpfennig nie seine Figuren, und darin liegt die Kunst.
Wie viel Realismus verträgt das Stück?
Man kann es mit ganz wenig machen. Ähnlich wie das Stück wirkt unser Bühnenbild, also ob es auseinandergesprengt und dann in einer zufälligen Ordnung wieder zusammengesetzt worden wäre. Eine Holzkonstruktion, die schief und krumm ist und zu einem Drachen gehört. Es gibt einen Kopf und einen Schwanz und dazwischen ein Holzskelett, das ein wenig nach Mikado- oder Essstäbchen aussieht. Unsere Hauptinstrumente sind im Moment Schlagzeugstöcke und fünf Woks, die uns ein rhythmisch-musikalisches Spiel erlauben.
Ist „Der Goldene Drache“ ein Globalisierungsstück?
Schimmelpfennig hat auch ein Stück über die Globalisierung geschrieben, aber man tut dem Stück keinen Gefallen, wenn man es als hochpolitisches erzählt – politisch ist es per se. Es geht mehr um die Überschneidungen von Lebensläufen. In dem asiatischen Imbiss wird ein junger Flüchtling durch die Banalität eines verlorenen Zahns des Lebens beraubt, dann fällt der Blick auf das Beziehungsdrama eines jungen Paares, das ein Kind erwartet, das nicht gewollt ist. Das ist ein Lebenszyklus. Und es geht auch darum, dass dieses banale Beziehungsproblem gleichberechtigt neben dem asiatischen Illegalen oder den Flüchtlingsbooten steht, von denen die Stewardessen erzählen. Dieses Gegeneinander befruchtet sich zu einem lebendigen Kosmos und entwickelt durch das Hin und Her der Szenen eine wunderschöne Dynamik, hat sogar etwas Rauschhaftes.
Wie behält der Zuschauer die Übersicht und Orientierung in den Short Cuts und den Crossgender- und Crossage-Besetzungen von Schimmelpfennig?
Anfangs wird sich eine leichte Verwirrung nicht vermeiden lassen, weil das Stück keiner klassischen Dramaturgie folgt. Da muss sich der Zuschauer erst einmal zurechtfinden. Auf der Bühne setzt sich der Plot allerdings leichter um als beim Lesen. Dass man sich orientieren muss in der Welt, dass Identitäten nicht so leicht aufzulösen sind, sondern dechiffriert werden müssen – das gehört aber auch zu diesem Stück.
„Der Goldene Drache“ beginnt und endet mit dem faulenden Zahn des jungen Asiaten. Ist das Stück nicht auch eine Komödie?
„Der Goldene Drache“ lässt sich nicht in eine Schublade packen. Es hat zwar komödien- und slapstickhafte Anteile, andererseits aber auch tragische Situationen wie die sehr brüchigen Beziehungen der Figuren. Das lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Wir werden uns natürlich das Komödiantische nicht entgehen lassen.
Zu all den unterschiedlichen Ebenen im Stück kommt noch die Parabel von der Grille und der Ameise, die sich durch das ganze Stück zieht.
Die Parabel von der musizierenden Grille, die im Winter bei der arbeitsamen Ameise um Essen bittet, existiert in verschiedenen Versionen. Schimmelpfennig benutzt die Härtere. Die Ameise interessiert sich nicht mehr für die künstlerischen Fertigkeiten der Grille, sondern nur noch für deren Ausbeutung. Es geht letztlich nur noch um Prostitution. Das kann man auch als Parabel auf die Kunst und die Künstler sehen, die sich mitunter auch prostituieren müssen, um zu überleben. Genial ist, wie Schimmelpfennig die Parabel in die Figurenebene hineinlaufen lässt, wie die Ameise zum Lebensmittelhändler wird, der Vorräte hortet und im Hinterzimmer fritzlmäßig eine Grille eingesperrt hat, die er dann den Freiern zuführt. Die Grille ist die Schwester des jungen Mannes mit den Zahnschmerzen. Der asiatische Illegale hatte den Auftrag, seine Schwester zu suchen, die in Europa verlorengegangen ist. Da kommen dann alle Erzählstränge letztlich zusammen.
Ist das Ihre erste Schimmelpfennig-Inszenierung?
Ja. Ich habe gerade großen Spaß an Stücken, die die stringenten und linearen Dramaturgien einer Geschichte auflösen. Nach Felicia Zellers „Kaspar Häuser Meer“ und Marius von Mayenburgs „Der Stein“ bedeutet Schimmelpfennig noch einmal eine Steigerung. Ich stelle fest, wie einfach es ist, durch minimale Zuschreibungen und Hilfsmittel ganz neue Welten und Figuren auf der Bühne entstehen zu lassen, ohne alles komplett ausbuchstabieren zu müssen. Das kann nur das Theater.
„Der Goldene Drache“ | R: Rüdiger Pape | Theater im Bauturm | 14./15./18.-20./21. (19 Uhr)/30.4., 20 Uhr | 0221 52 42 42 | www.theater-im-bauturm.de
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