Das neueste Projekt des Import Export Kollektivs begibt sich auf vielschichtiges Terrain zwischen Fiktionen und Fakten, Biografien und ihrer Inszenierung. 19 junge SchauspielerInnen schlüpften bei der Premiere am Samstag in Rollen, die sie selbst oder ihre MitstreiterInnen bruchstückhaft darstellen, ebenso aber auch fiktional sein könnten.
Als die Tore des Depot 2 geöffnet werden, schallt lauter Techno dem ankommenden Publikum entgegen. Die ruckartigen Bewegungen einzelner Körperpartien auf der Bühne erinnern an nervöse Zuckungen. So begrüßt das Kollektiv, barfuß und gekleidet in Pyjama-artige Hemdchen, die Premierengäste. Was wir hier zu sehen bekommen, wirkt wie Versuche eines Ausbruchs: Akte der Befreiung aus der von Zuschreibungen und Reduktionen geschnürten Zwangsjacke. Was wir nicht zu sehen bekommen, sind glatte Oberflächen und gute Manieren. Gleichsam unterhaltsam wie betreffend baut sich im Laufe des Abends eine forschende, persönliche Atmosphäre auf. Ein Stimmungscocktail aus Komik und Tragik, Absurdität und Bestürzung. Unklar bleibt dabei, wie viel von dem Gezeigten persönliche Erfahrung und was reine Konstruktion und Spiel ist – das Ensemble arbeitet mit „Bastelbiografien“.
Ob queer, weiblich, geflüchtet, behindert, klein, muslimisch oder ausländisch – zu oft wird Mensch im Alltag auf nur eines seiner Attribute reduziert. Die Geschichte, von der angenommen wird, dass sie alle anderen Geschichten erklärt. Welche Wahrheiten bleiben also bestehen, wenn mit Etikettierungen auch Erwartungshaltungen wegfallen? Was für Menschen und somit Motivationen, verbergen sich hinter Online-Fake-Profilen, Tinder-Kosenamen und willkürlich verteilten Etiketten? Wie viele Persönlichkeiten leben in einer einzelnen Person, und ist nur eine dieser Facetten die echte?
Diese und andere Fragen erforscht das Kollektiv unter der künstlerischen Leitung des Regisseurs und Theaterpädagogen Bassam Ghazi am Schauspiel Köln auf vielfältige Weise. Das erscheint erst einmal weit ausgeholt, passt jedoch zur mannigfachen Auswahl des Dargebotenen. Szenische Einheiten reihen sich an performative Formate, werden unterbrochen durch Tanz, Gesang und Videoprojektion. Der kollektive Entstehungsprozess in doku-fiktionaler, spielerischer Herangehensweise zeichnet sich deutlich ab. Und das ist gut so, denn „wir sind viele“ – ob in einer Einzelperson oder gemeinsam. Willkommen in „DiverCity“.
So wohnt das Publikum der Instagram-Videoproduktion „How to be a real fake?“ bei, wird Zeuge von verstecktem und offenem Rassismus, Sexismus und Pussy Glam, einer Queer Parade und innerer Spaltung. Jede der Sequenzen thematisiert einen weiteren Konflikt rund ums Thema Identitäten: das Doppelleben als Deutschtürke, die Verantwortung, die es mit sich bringt, privilegiert zu sein, den Schmerz des Andersseins. Klischees werden abgearbeitet, Biografisches verzerrt. Eine zentrale Szene ist das Casting zur Neubesetzung eines Theaterhauses. Bei der dort erforderlichen Selbstinszenierung werden die zuvor verhassten Labels als bewusste Marketingstrategie für die eigene Person eingesetzt. Wo Inszenierung ihren Start- und Endpunkt hat, kann nicht geklärt werden. Schein und Sein sind niemals identisch und doch untrennbar. Dass auch Fragen übergriffig sein können, lernt das Publikum spätestens, als die Akteure den Zuschauerraum stürmen und es direkt konfrontieren. „Schwul oder nicht schwul? Geld oder kein Geld? Dick oder nicht dick?“
In „real fake“ trifft Scripted Reality das wahre Leben. Das sind Innenansichten aus den Schubladen der Kategorisierung. Persönlich und identifizierbar liefert das Import Export Kollektiv so ein Werk ab, das zum Nachdenken über die eigene Identität anregt und Alltagsrassismen schonungslos konfrontiert. Respekt und Standing Ovations für die Nachwuchskünstler.
„real fake“ | R: Bassam Ghazi | 13.3., 20.3., 18.4., 25.4. 20 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 2 | 0221 221 284 00
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