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Moritz Sostmann sieht in „Occident Express“ die Geschichte einer Emanzipation
Foto: Jan Schliecker

„Hommage an die Stärke des Menschen“

28. September 2017

Moritz Sostmann inszeniert „Occident Express“ am Schauspiel Köln – Premiere 10/17

Lehman Brothers, Anna Politkowskaja, Palästina – und Balkankonflikt, Flüchtlingskrise – der italienische Autor Stefano Massini kennt die Konfliktherde der Erde. Und er findet für jeden die angemessene dramatische Form. Während er die Finanzkrise in einer Generalogie der Familie Lehman(n) ausblätterte, entwickelt das neue Stück „Occident Express“ ein Flüchtlingsschicksal am Beispiel der 60-jährigen Syrerin Haifa, die nach einem Massaker in ihrem Dorf sich mit ihrer Enkelin auf den Weg nach Europa macht. Regisseur Moritz Sostmann inszeniert am Schauspiel Köln die deutsche Erstaufführung.

choices: Herr Sostmann, würden Sie sich persönlich eigentlich Haifas Flucht zutrauen?
Moritz Sostmann: 1988 bin ich mit einem Freund durch Russland gereist. Damals war das nicht so einfach, es gab Polizeiposten, bei denen man tricksen musste. Wir sind vom KGB eingesperrt worden. Das war sehr abenteuerlich, hatte aber nicht die Härten dieser Flucht. In bestimmte Szenen von „Occident Express“ kann ich mich reindenken, andere sind außerhalb meines Vorstellungshorizonts. Das ist aber auch das Thema des Stücks. Es geht nicht darum, dem Zuschauer das Flüchtlingsschicksal nahezubringen, sondern darum, wie dem Zuschauer die Stationen überhaupt plausibel zu machen sind. Nicht in einem defätistischen und leidvollen Sinn, auch nicht im Sinn einer Flüchtlingsfolklore, sondern als eine Hommage an die Stärke des Menschen. Jede Station wird zu einem Sieg, und trotzdem steht er wieder vor einer Grenze. Es ist ein Gleichnis für die Existenz des Menschen über die Jahrhunderte.

Was ist der Auslöser für die Flucht der Hauptfigur Haifa?

Moritz Sostmann
Foto: Sandra Then
ZUR PERSON
Moritz Sostmann, geboren 1969 in Halle an der Saale, studierte Puppenspiel an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und arbeitete als Schauspieler u.a. in Basel, Wien und Berlin. Seit 2005 ist er überwiegend Theaterregisseur und vereint das Schauspiel mit dem Puppenspiel. Seit 2013/2014 ist Sostmann Hausregisseur am Schauspiel Köln.

Das Stück gibt vor, eine dokumentarische Geschichte zu erzählen. Dieses Losgehen verweist allerdings auf etwas Größeres. Die Geschichte beginnt mit dem Zitat, Haifa sei eigentlich für die Sesshaftigkeit geboren. Dann wird in ihrem Dorf die Bevölkerung vom IS abgeschlachtet und sie bleibt mit ihrer Enkelin allein zurück. Den Entschluss zu gehen, trifft sie gar nicht bewusst. Es passierte etwas mit ihr und sie kann nicht sagen, was es ist. So entstehen ja meistens Geschichten. Man trifft bestimmte Entscheidungen gar nicht überlegt, sondern die werden getroffen. Bei Haifa hängt das auch damit zusammen, dass ihr in ihrem Dorf in den vergangenen 60 Jahren bisher nichts widerfahren ist, was sie ans Leben glauben lässt. Ihre Flucht wird zur Geschichte einer Emanzipation.

Haifa durchläuft im Stück eine Schule der Gefühle. Schließlich sagt sie: Was mir jetzt noch fehlte, war, Wut zu spüren, am eigenen Leib. 
Die Beschreibungen ihrer eigenen Gefühle im Stück sind extrem widersprüchlich. Manches klingt sogar wie aus einem Groschenroman. Man vermutet zuerst eine Unachtsamkeit des Autors. Doch all das ist Teil dieser Figur. Die Unterscheidung von Gefühlen bleibt indifferent, wenn man das nicht gewohnt ist. Was man nicht beschreiben kann, kann man nicht fühlen.

Welche Stücke eignen sich für den Einsatz von Puppen und welche nicht? 
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass psychologische Stoffe mit den Puppen, die ich benutze, sehr gut funktionieren. Oft sogar besser als im Schauspiel mit leibhaftigen Darstellern. Über die Einfachheit und Künstlichkeit der Puppen lassen sich psychologische Vorgänge viel pointierter und prägnanter plausibel machen als über Schauspieler. Obwohl diese Puppen nichts fühlen, kriegt man über die Zeichenhaftigkeit die Grundstruktur von einem Gefühl sehr gut serviert. Auch absurde Vorgänge lassen sich schneller plausibel machen. Durch die Veräußerlichung, die Maskenhaftigkeit und die Verkürzung kann sich der Zuschauer sehr viel schneller reindenken. Man bekommt das Typische mit den Puppen schneller hin.

Warum besetzen Sie eine Figur mit einer Puppe oder mit leibhaftigen Schauspielern?
Da ist zunächst die Frage, wieviel Puppen im Budget sind. Dann fängt man an, aus der Not Tugenden zu machen, was ich eigentlich ganz gern mag. Bei „Occident Express“ war von vornherein klar, dass ich für eine sechzig Jahre alte, arabische Frau mit grauen Haare keine Darstellerin finde. Deshalb war es naheliegend sie mit einer Puppe zu besetzen. Dann gehe ich die Szenen durch, wann sie besser einer anderen Puppe begegnet oder wann sie besser unter lauter Menschen ist und dadurch fremd und verloren wirkt. Hier kam noch dazu, dass es sich um einen Monolog handelt und ich schon deshalb alles von der Hauptfigur aus gedacht habe.

Wie gehen Sie mit den Kindern im Stück um?
Ich lasse sie ein bisschen links liegen. Wir haben eine ganz bezaubernde Puppe für das vierjährige Mädchen. Sie hat ein hinreißend renitentes Gesicht und bekommt zwei, drei Auftritte. Ansonsten lasse ich die Kinder nur in den Erzählungen auftauchen. Bei uns tritt auch nie die komplette Fluchtgruppe auf. Ich will alles vermeiden, was nach Illustration aussieht. Mit geht es mehr darum die Situationen mit eher filmischen Mitteln wie Close-Ups, Schnitt-Gegenschnitt oder verschiedenen Perspektiven zu erzählen.

Warum haben Sie die Rollen ausschließlich mit Schauspielerinnen besetzt?
Weil ist glaube, dass das auch eine feministische Geschichte ist. Es ist die Geschichte einer alten Frau, eines Mädchens, dann kommen drei Jungs und noch eine junge Frau dazu. Die Jungs sind also alle noch keine Männer, versuchen aber sich wie Männer zu verhalten. Interessant ist, wie Haifa die Jungs anguckt und wie sie auf den Stationen die einzelnen Männer, also den Mafioso, den Hirten, den Kurden, den Fährmann anschaut. Das sind alles kleine Emanzipationsprozesse, die sie zu einer selbstbewussten Frau machen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, das nur von Frauen spielen zu lassen.

Stefano Massinis Stück lebt von einem filmischen Naturalismus. Wie gehen Sie damit um?
„Occident Express“ ist letztlich ein beschriebener Film. Es geht nicht ums Nachspielen und -empfinden der Figuren, sondern um die Beschreibung, was auf einer Leinwand passiert und darüber die Zuschauer zum Nachdenken zu bringen. So ist das Stück aufgebaut und das ist eine ziemlich charmante Variante.

Das Stück hat ja auch Kapitel, die am Ende wie ein Inhaltverzeichnis aufgeführt werden.
Genauso benutzen wir das auch: Als Orientierung für den Zuschauer. Es gibt ja sogar eine kleine Skizze der Route im Stück.

Hat Massini all die Fluchtstationen eigentlich recherchiert?
Es schreibt zum Beispiel über Leipzig. Er war aber bestimmt noch nie in Leipzig. Es ist eher so, wie sich ein Italiener in Florenz die Stadt vorstellt. Ich habe auch keine Ahnung, wie er darauf kommt, dass die Flüchtlinge von Düsseldorf nach Leipzig flüchten, weil im Rheinland das Ausländerheim brennt. Dementsprechend war ich auch bei den anderen Fakten skeptisch. Das sind Fantasiebilder, die er sich zusammengesucht hat. Das ist das Karl-May-Syndrom. Man schreibt sehr plastisch und sehr glaubwürdig, ohne dass man je da war. Die Phantasmen verweisen allerdings auf etwas Größeres, nämlich wie belastbar der Mensch ist. Dadurch entsteht ein Gegenbild zur Opferwahrnehmung der Flüchtlinge. Es geht um die Beschreibung der unglaublichen Vitalität, die hinter dem Entschluss steckt, sich auf den Weg zu machen.

„Occident Express“ | R: Moritz Sostmann | 7., 14., 17.10. 20 Uhr, 8.10. 18 Uhr, 22.10. 19 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 2 | 0221 221 284 00

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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