In seinem Reich duldet Max Mogul keine Schlampereien. Der Hausverwalter führt ein hartes Regiment und schreibt den Bewohnern sogar vor, was sie in Flur und Keller anzuziehen haben: Männer im Frack, Frauen im Zweiteiler, am besten im kleinen Schwarzen. Lukas Linder versammelt in seinem neuen Stück „Draußen rollt die Welt vorbei“ ein Kabinett grotesker Figuren. Die spiritistisch angehauchte und Kalendersprüche verfassende Adele Napf-Günsterloh, die sich für eine Großschriftstellerin hält, ihre Tochter He, die vor dem mütterlichen Regime ins Kino flieht; der verrentete Clown Schreck mit Hang zu erbärmlichen Witzen. Alle vier haben sich in einen Kokon der Einsamkeit eingewebt, den sie mit Franz, einem inzwischen verstorbenen Hausbewohner, bevölkern. Ein Traumbild, eine Projektion, die die unerfüllten Sehnsüchte vom Leben erfüllen kann. Als dann plötzlich Nelly, die Zwillingsschwester von Franz auftaucht, gerät die mühsam austarierte emotionale Balance ins Schleudern.
In der Werkstatt, der Studiobühne des Bonner Theaters, tobt von Beginn an der Irrsinn. Robert Höller als Max Mogul mit Topffrisur, Strickjacke und Samtpantoffel gibt die Knallcharge mit Hochgeschwindigkeitssprech. Auch wenn er sich mal unter dem Teppich versteckt, Glühbirnen zur Hausdurchsage benutzt – Drahtigkeit ist seine hervorstechendste Charaktereigenschaft. Sein Kommandoton funktioniert allerdings nur gegenüber dem unterwürfigen Schreck, den Bernd Braun als willfährigen, gesellschaftsbedürftigen König der Unbeachteten zeichnet. Ihm gesteht Regisseurin Mina Salehpour die einzigen anrührenden Szenen zu. Wenn er gegenüber Nelly über Treffen mit Franz schwadroniert und sich sehnsüchtig an vermeintliche wortkarge Gespräche erinnert – dann liegt darin die gesamte Traurigkeit einer Existenz.
Lukas Linders Plot hat einen realen Hintergrund. 2005 verstarb in Genf ein Mann in seiner Wohnung und wurde erst zweieinhalb Jahre nach seinem Tod entdeckt. Niemand hatte ihn vermisst, weder die Nachbarn, noch die Verwandten. Und schon in seinem Stück „Der Mann aus Oklahoma“ ließ Linder den jungen Fred seinen abwesenden Vater herbeifantasieren. In „Draußen rollt die Welt vorbei“ ist es gleich eine ganze Gruppe, die den Tod oder das Verschwinden eines Menschen nicht als finale Grenze akzeptieren will. Die Groteske hat bei Linder allerdings eine Kehrseite, in der Kälte, Wehmut, Herrschsucht oder Einsamkeit zum Vorschein kommen. Mina Salehpours Inszenierung verzichtet auf diese Doppelbödigkeit weitgehend. Die Kälte der Adele geht bei Ursula Grossenbacher ganz in divenhafter Selbststilisierung (samt Sonnenbrille und Wallegewand) auf. Sie thront auf dem obersten Absatz einer mit rotem Teppich belegten Freitreppe (Ausstattung: Maria Anderski) und steigt nur gelegentlich zu den gemeinen Mitbewohnern herab.
Auch dem Abhängigkeitsverhältnis von Tochter He zur Mutter fehlt es nicht an einem Unterstrom von Herrschsucht und Unterwerfung. Julia Kieling im Kunstfelljäckchen mit überlangen Ärmeln darf zwar das Geländer polieren, ist aber ansonsten frei, mit dem biederen Kammerjäger Kleinmann (Alois Reinhardt) anzubändeln. Er soll die im Haus grassierende Speckkäferplage beseitigen – ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit des Todes. Nur die Nelly der Laura Sundermann entgeht der umfassenden grotesken Zurichtung. Zwar fantasiert sie sich – anders als im Stück, in dem Franz zunächst durch eine Pizzaschachtel spricht – ihren Zwillingsbruder als zweites Ich herbei und spricht seinen Dialogpart mit, doch dann stapft sie mit Realitätssinn und Aufklärungswillen durch die Wahnwelten der Hausbewohner. Nur mit Mühe entgeht sie am Ende deren Willen, sie zur Wiedergängerin von Franz machen zu wollen. Linders Stück ist sicherlich kein so großer Wurf wie der Vorgänger „Der Mann aus Oklahoma“, aber Salehpours Interpretation ist doch allzu sehr auf grellkomische Wirkung aus, anstatt auch Nachtseiten des Stücks auszuloten.
„Draußen rollt die Welt vorbei“ | R: Mina Salehpour | Theater Bonn | Di 10.5., Di 31.5. 20 Uhr | 0228 77 80 08
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