Wie fest ist das Festland? Das Haus im Fjord, das Ellida mit dem Bezirksarzt Wangel bewohnt, hat zwar Wände, doch Fenster und Türen sind nur leere Öffnungen. Und der Boden ist nackter, unbehauener Fels samt ein paar unbehauenen Brocken (Bühne: Sebastian Hannak). Ist das noch Gesellschaft oder schon Natur? Gehen Renaturierung und Zeichen der familiären Dissoziation Hand in Hand und inszeniert Ibsens Drama „Die Frau vom Meer“ ein Rückzugsgefecht der Zivilisation?
Die Behausung ist durchlässig. Jeder schneit hier mal durchs Fenster oder die türlose Tür. Wangels zwei Töchter aus erster Ehe, Hilde (Lara Waldow) und Bolette (Lena Geyer) schaufeln in Trauerkleidung Blumen ins Haus: zum Gedenken an ihre leibliche Mutter. Ein Affront gegen die Stiefmutter. Mareike Hein als Ellida im kurzen hellen Kleid mit nackten Füßen sucht ständig Rückhalt an der Wand, lehnt sich gegen sie wie auf einer Party. Eine Frau ist zu Gast – und kann doch nicht verhindern, ins Somnambule abzugleiten. Immer wieder versinkt Ellidas Blick im Ungewissen.
Wangel, der eigentlich als Vermittler zwischen Frau und Töchtern fungieren sollte, ist bei Holger Kraft ein ziemlich hilfloser Gutwetteronkel, irgendwie immer versöhnlich, immer gesprächsbereit, hält aber die größtmögliche räumliche Distanz zu Ellida. In seiner unter einem Lächeln kaschierten Verzweiflung hat er den Oberlehrer Arnholm (Benjamin Grüter als smarter Konventionsapologet im Anzug) herbeigerufen, weil er vermutet, der hätte früher ein Verhältnis mit Ellida gehabt. Eines von vielen Missverständnissen in dieser fjordistischen Gesellschaft. Ellida ist auf einem Leuchtturm groß geworden. Ihr unwiderstehlicher Drang zum Meer knüpft sich an eine Begegnung mit einem Seemann (der bei Ibsen im letzten Akt auftritt, aber in Bonn gestrichen ist). Für die Ehe mit Wangel hat sie diesen Drang unterdrückt, doch nach einer Fehlgeburt ist die Sehnsucht wieder da. Videoprojektionen von Thorsten Hallscheidt unterstreichen diese Sehnsucht nach dem Wasser, die sich auch in Ellidas Verlust der zivilisatorischen Anpassungsfähigkeit niederschlägt: Sie rutscht immer wieder vom Stuhl.
Vor der Pause treibt Regisseur Martin Nimz die Vereinzelung der Figuren derart weit, dass die Dialogsätze mitunter ohne jeden Halt und gelegentlich etwas emotionslos im Raum flottieren. Selten ist einem der Verzicht auf Musik so aufgefallen wie an diesem Abend. Im zweiten Teil verdichtet sich das Geschehen, aber da sind die Wände des Hauses schon in den Hintergrund gefahren und haben die Personen quasi freigesetzt. Der naiv-narzisstische Möchtegern-Künstler Lyngstrand (Daniel Gawlowski) baggert Hilde und Bolette an. Seine Sehnsucht besteht aus angelesenen Klischees von potenten weitgereisten Künstlern und wartenden Frauen. Ein lächerlicher Peer Gynt der Künste. Doch die sarkastische Hilde kennt auch ihren Ibsen: Sie weiß nicht nur, wie sie ihre Schwester quälen kann. Am Ende mimt sie in Stiefeln und mit Pistole die Hedda Gabler und knallt Lyngstrand einfach ab. So erfüllt sich ein Leben: Kunstfigur tötet Möchtegernkünstler. Bolette wählt einen anderen Weg. Sie erlebt zunächst ein absurdes Déjà-vu, weil Lyngstrand und ihr früherer Lehrer Arnholm sie ähnlich hilflos anmachen. Arnholms Heiratsantrag verschlägt ihr dann aber die Sprache, doch sie geht einen Deal ein: Sie darf reisen, shoppen und studieren, Arnholm bekommt dafür ehelichen Gelegenheitssex.
Die Regie entwickelt drei Beziehungsmodelle, die bei aller Komik keinerlei Hoffnung beinhalten. Denn auch der Fall Wangel/Ellida bietet keine Lösung. Nach einem Besäufnis gibt er seine Frau frei. Doch Wangel definiert Ellidas Freiheit zu Recht als Freiheit der Entscheidung, also als schlichten Dezisionismus. Ellida mag sich gegen den Arzt und für den Seemannfrei entscheiden, doch danach folgt nur eine neue Abhängigkeit. „Es gibt keine Rettung für dich!“, brüllt Wangel wütend. Aber die gibt es vermutlich für niemanden. Am Ende steht Ellida mit entblößten nach vorn gerichteten Händen da. Auf Heil und Erlösung hoffend – so wie wir alle.
„Die Frau vom Meer“ | R: Martin Nimz | Fr 28.4., Sa 20.5., Fr 26.5., Sa 10.6. 19.30 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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