Im Zentrum der Drehscheibe steht eine aufblasbare Puppe: Die Mitte der Welt. Sie trägt die Züge von König Lear und kann als Barometer seiner Macht gelesen werden. Luft rein, Luft raus. Zu Beginn des „König Lear“ am Bonner Theater wird an der Bühnenkante Bernd Braun in der Titelrolle behutsam angekleidet, während hinter ihm der Popanz seiner Macht sich langsam erhebt. Lear agiert zunächst extrem herrisch und autoritär. Seine Untertanen nähern sich gebückt. Selbst als er sein Reich unter seinen Töchtern aufteilt, kommen Goneril (Sophie Basse) und Regan (Sandrine Zenner) mit höchster Vorsicht auf ihn zu. Nicht zu Unrecht, wie die trotzige Cordelia (Lena Geyer, die auch den Narren spielt) bei ihrer Enterbung und Verbannung erfahren muss.
Regisseurin Luise Voigt spielt mit der Verdopplung der Macht auf die feudale politische Rechtstheorie von den zwei Körpern des Königs an. Während der private Körper sterblich ist, bleibt der politische unsterblich, weil er das Amt symbolisiert („Der König ist tot, es lebe der König“). Das sorgt zwar für schöne Bilder, trägt aber nicht viel zur Interpretation bei – und ist historisch nicht ganz richtig. Zu Shakespeares Zeiten wird diese politische Körpertheorie bereits von einer absolutistischen Staatstheorie ersetzt, die erst die Voraussetzung schafft für Lears Reichsteilung.
Luise Voigts Bonner Interpretation hat ihr Zentrum eher im Ästhetizismus der Aufführung. Ästhetizismus hat mit Formwillen, aber auch dem Schutz vor einer (moralischen) Indienstnahme der Kunst zu tun – was in Zeiten der Hypermoral nicht schlecht sein muss. Die Bonner Bühne ähnelt einem aufgeklappten Blatt Papier. Wie im Ballett weht es die jeder Psychologie entkleideten Figuren herein und wieder hinaus. Sie sind in einem Haute-Couture-Barock (Kostüme: Maria Strauch) gekleidet, Rüschen, hier, Kniehosen dort, alles in seidig schimmernden Grau. Die Bewegungen sind artifiziell durchchoreografiert: Regan und ihr Mann Cornwall (Holger Kraft) schweben in bodenlangen Gewändern wie zwei Figuren im Wetterhäuschen um die Drehschiebe herum. Der intrigante Edmund (Christoph Gummert) kriecht auf allen Vieren, um später wie ein Äffchen in Gonerils Armen zu hängen; sein Bruder Edgar (Alois Reinhardt) wird ständig von Spasmen geschüttelt. Filmbilder der Figuren als Strandläufer ergänzen das Bühnengeschehen.
Das Opfer allerdings, das auf dem Altar des Ästhetischen zu bringen ist, ist hart: Die Figuren bleiben blutleer, sie berühren nicht. Doch dem wird etwas Verblüffendes entgegengesetzt: Anders als in früheren Bonner Inszenierungen, die Sprache zum Klang zerschmolz, lässt Luise Voigt das gesprochene Wort diesmal unangetastet. Es stemmt sich gegen die Eruptionen der Körper, gegen die Schönheit des Kostüms, gegen die Filmbilder und produziert unablässig Sinn – drastisch, brutal, witzig, zärtlich und vor allem nicht selbstbezüglich. Daraus lebt diese zutiefst ambivalente, aber sehenswerte Inszenierung.
„König Lear“ | R: Luise Voigt | Termine in Planung | Theater Bonn | 0221 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Spiegelbild der Wutbürger
„Kohlhaas (Can‘t Get No Satisfaction)“ am Schauspiel Bad Godesberg – Auftritt 03/25
König der Täuschung
„Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ in Bonn
Ein Flasche Romantik, bitte!
„Der Liebestrank“ am Theater Bonn
Endsieg für Ödipus
Elfriede Jelineks „Am Königsweg / Endsieg“ in Bonn – Prolog 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
„Wir können nicht immer nur schweigen!“
Jens Groß inszeniert Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ am Theater Bonn – Premiere 06/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Mörderische Gesellschaftsstruktur
Georg Büchners „Woyzeck“ am Bonner Schauspiel – Auftritt 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
Freiheit oder Ausgrenzung?
„Draußen“ im Jugendpark Köln-Mülheim – Prolog 03/25
Im Schatten der Diktatur
„Jugend ohne Gott“ am Comedia Theater – Theater am Rhein 03/25
Der Mensch als Scherbe
„Der zerbrochene Krug“ am Horizont Theater – Theater am Rhein 03/25
„Ich erwische mich dabei, Stofftaschentücher zu bügeln“
Regisseur Sebastian Kreyer und Schauspieler Daniel Breitfelder über „Der ewige Spiesser“ am TdK – Premiere 03/25
Fixer im Dienst der Wahrheit
„Making the Story“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/25
Totale Berührung
„Do not touch!“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 03/25
De Rach vun der Fleddermus
„De Kölsche Fledermaus“ an der Oper Köln – Theater am Rhein 02/25
Skurrile Denkanstöße
„Der Tatortreiniger“ am Bonner Contra-Kreis-Theater – Prolog 02/25
Das Ende der Herrlichkeit
„Der Fall Ransohoff “ am Orangerie Theater – Theater am Rhein 02/25
„Es geht einzig und allein um Macht“
Regisseur Volker Lippmann über „Fräulein Julie“ am Theater Tiefrot – Premiere 02/25
Ein Massengrab für die Hoffnung
„Aus dem Schatten: Thiaroye“ von Alexandra Badea am Schauspiel Köln – Auftritt 02/25
Überladenes Gezwitscher
Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ und „Endsieg“ in Bonn – Theater am Rhein 02/25