Im Mai geht es los. Langsam aber sicher stapeln sich die Herbstprogramme der Verlage zu einem bedrohlich wankenden Turm – bis er pünktlich zur Frankfurter Buchmesse mit lautem Getöse umkippt. Halleluja, was ein (kreativer) Output! Verstört wühlt sich die Leseratte, der einzige Nager, den mein Kater akzeptiert, aus den Verlagsvorschauen. Ich hätte sie warnen sollen. Aber den Messebesucher warnt ja auch keiner. Halle für Halle, Gang für Gang, Koje für Koje verwandeln sich die Buchcover in ein Kaleidoskop aus unaufhörlich wechselnden Farben. Hier muss man keinen Durchblick bewahren. Wer zu viel will, wird erschlagen. Sich treiben lassen, am Rauschen berauschen und dem Instinkt folgen, ist der einzige Weg, um Entdeckungen zu machen, die man in den unzähligen Programmen mit ihren noch unzähligeren Veröffentlichungen übersehen hat:
Ein Klassiker: Obwohl 1964 kongenial von Sidney Lumet adaptiert, musste Edward Lewis Wallants „Pfandleiher“ [Berlin] bis heute warten, um in deutscher Übersetzung vorzuliegen. Eine Schande angesichts des belanglosen Krauts, das fürderhin zum Thema„Holocaust und seine Überlebenden“ verhökert wurde! Zumal dieses feinsinnige Psychogramm eines zu Tode Erstarrten in Zeiten grassierender Kriegstraumatisierung nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Aus der Musik: Es war ein echtes Erweckungserlebnis, als Anfang der 80er im ZDF-Schüler-Express die Einstürzenden Neubauten über mich hereinbrachen. Klar, dass ich auf „Krach“ [MetroLit], die „Verzerrten Erinnerungen“ von Gitarrist Alexander Hacke, sofort anspringe. Ein persönlich-geradliniger Einblick in 50 Jahre voller Ups’n‘Downs, Downs im Up und Ups im Down. Weißes Rauschen. Ein Aufbäumen auf allen Frequenzen.
Und noch ein Klassiker, der trotz filmischer Ehrung (Scorsese) in Vergessenheit geraten ist. Dabei bietet Edith Whartons „Zeit der Unschuld“ [Manesse] alle Ingredienzien einer intelligenten High-Society-Soap: einen attraktiven Anwalt, seine adrette Ehefrau und ihre verruchte Cousine. Eine sensibel skizzierte Dreiecksbeziehung, die der oberflächlich-starrsinnigen Gesellschaft in feiner Ironie den Spiegel vorhält.
Aus dem Film: Es lebe der Schrecken der Horror-Stummfilme, ihre schauerlichen Masken und Gebärden – und ihre verheerende Wirkung. Rund um den verschollenen Klassiker „Um Mitternacht“ [Suhrkamp] entspinnt Augusto Cruz einen famos recherchierten Schauerroman, der eine ganze Ära – inklusive der FBI-Gründerzeit unter dem allmächtigen J. Edgar Hoover – aufleben lässt.
Mit Witz: Sie können's einfach, die Isländer: das groteske Leben in skurriler Selbstironie ad absurdum führen. Speziell Hallgrímur Helgason, der mit „Seekrank in München“ [Tropen] mal wieder einen schrägen und doch so geraden Insulaner in die Welt hinausschickt (hier: die bajuwarische Kunstakademie), um den modernen Wahnsinn in seiner Sinnlosigkeit implodieren zu lassen. Welch wunderprächtige Narretei!
Persönliche Favoriten: Mit „Northline“ hat sich Willy Vlautin auf der lit.Cologne 2009 in mein Herz geklampft. Die Storyline nicht ganz so stringent, setzt er mit „Die Freien“ [Berlin] seinem Talent, Figuren ohne große Worte in all ihrer Tiefe zu charakterisieren, die Krone auf. Vermeintlich belanglos-alltägliche Szenen verweben sich zu einem unentwirrbaren Geflecht aus Sorgen und Nöten, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wattebauschwerfen
Die potentiellen Koalitionspartner im Lit-O-Mat – Wortwahl 10/17
Vienna Calling
Der Teufel zwischen Buch und Beisl – Wortwahl 09/17
Migration
Oder: Vom Fressen und Gefressen-werden – Wortwahl 08/17
T3 mit Einschränkungen
Erkenntnisse aus dem literarischen Elfenbeinturm – Wortwahl 07/17
Leichte Kost
Für eine kalorienbewusste Literaturzufuhr im Advent – Wortwahl 12/16
Musik in den Augen
Literaturtracks für den Sommer – Wortwahl 08/16
Tour de Force
In 14 Tagen mit 6 Büchern durch Thailand – Wortwahl 05/16
Wirkungstreffer
Trojaner in Buchform – Wortwahl 04/16
Fasteleer
Ein kleiner Geisterzug durch die Literatur – Wortwahl 02/16
Künstlerpech
Das Kreuz mit den besten Jahren – Eine Weihnachtspredigt – Wortwahl 01/16
X-Mas Time
Geschenktipps für Frühkäufer – Wortwahl 12/15
Nichts als Schmerzen
Die Liebe und ihr sündhaft teurer Preis – Wortwahl 10/15
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24