Das Volk meldet sich zu Wort. Es äußert sich fanatisch. Es setzt sich in Szene, hört zu und es feiert oder tanzt. Und es verschwindet. Im Rahmen ihres aktuellen „Pluriversale“-Zyklus, der den Titel „Die alte Linke und die neue Rechte“ trägt, zeigt die Akademie der Künste der Welt in der Herwarthstraße „Enigmatische Mehrheiten“. Zwar besteht die Ausstellung rein aus filmischen, damit zeitbasierten Beiträgen. Diese aber sind in ihrem narrativen und dokumentarischen Charakter das ideale Medium für die seismographische Erfassung der Stimmung in der Gesellschaft mit ihren instabilen Verhältnissen. Eine Qualität der Präsentation ist, dass sie mit den Möglichkeiten des Ausstellungsraumes selbst arbeitet. Die Projektionen laufen nacheinander ab, und die ruhigste, kontemplativste Arbeit ist noch für sich separiert in der hintersten Kammer, welche im Übrigen dem Sujet dieses Filmes entspricht.
„Enigmatische Mehrheiten“ sind in der Ausstellung dominierende Bevölkerungsgruppen, die diffus bleiben und sich dadurch der klaren Analyse entziehen. Die sieben filmischen Werke berichten von kollektiven Tendenzen an den unterschiedlichsten Orten auf der Welt und in verschiedenen kulturellen und religiösen Sphären. Es ist ein bestimmter kritischer, genau beobachtender Grundton, der die doch recht verschiedenen Beiträge verbindet. Die Ausstellung wird mit einem programmatischen Statement eingeleitet. Cristina Lucas' Videofilm „La Liberté Raisonnée“ ist eine provokative Umformulierung von Delacroix' Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“. In ausschnitthaften Bewegtbildern, deren Schönheit durch die Zeitlupe gesteigert ist, ist das maximale Entgleiten der menschlichen Vernunft zu sehen: ein Prozess, der mit der fanatisierten Schlachtung der Freiheit endet.
Ferhat Özgür geht in seiner Zweikanal-Video-Installation ebenfalls von einem historischen Ereignis aus, der Eroberung Konstantinopels durch die Ottomanen im 15. Jahrhundert. Er schildert, wie das Ereignis heute in Istanbul gefeiert wird. Seine Montage aus fremdem Filmmaterial und eigenen Aufnahmen zeigt Militär, Passanten, Publikum und lässt sie zu Wort kommen. Zwischen Euphorie und Nationalstolz ist latente Aggressivität gegenüber dem Westen auszumachen. In der Gegenüberstellung einzelner Personen gegenüber der Menge erzeugt Özgür eindringliche Einzelbilder und Charakterstudien.
Noch ein Nationalfeiertag wird in der Ausstellung gezeigt, derjenige der Schweiz, und zwar zelebriert an historischer Stelle, in Rüttli. In der ländlichen Tradition mit ihren Bräuchen und Symbolen scheinen Strukturen im Spannungsfeld von patriotisch und nationalistisch auf. Eine engagierte Warnung vor religiöser oder nationalistischer Engstirnigkeit und dessen Folgen enthält dann Anand Patwardhans Video „You can destroy the body“, das, begleitet vom Lied eines Widerstandskämpfers, Opfer des komplexen indischen Kastensystems zeigt. Spielerisch wirken hingegen die Dokumentation einer Performance zur „Republic of Dance“, welche das chinesische Massenphänomen eines populären Tanzes mit deutschen Laien in Weimar aufführt, und der Film „Myth of Modernity“ von Chulayarnnon Siriphol. In ihm mischen sich Demonstrationen zum Militärputsch in Thailand mit fiktionalen Formen des Buddhismus, wobei das Geschehen in der Folge mehr und mehr ins Absurde – in eine mystische Science Fiction – entgleitet.
So visuell eindrucksvoll diese Filme sind, so wohltuend ist der Abschluss mit gänzlich unspektakulären Ansichten auf drei Monitoren. Anne Arndt fokussiert Einzelbunker, die in Deutschland zur Zeit des Zweiten Weltkrieges gebaut wurden. So einfach und klar kann doch ein Statement zum Verhältnis von Einzelnem und Menge sein, zum Rückzug auf das Individuum als Ausdruck für kollektiven Wahnsinn. Insgesamt geht es der Ausstellung um assoziative Annäherungen an das heutige Phänomen der großen Masse, die sich als das Volk versteht und daraus Rechte im Umgang mit Minderheiten ableitet. Weiter untersucht das dann – gleichberechtigt – das Veranstaltungsprogramm der „Pluriversale“. Anspruchsvoll!
Pluriversale VI: „Enigmatische Mehrheiten“ | bis 13.7. | Academyspace der Akademie der Künste der Welt | 0221 337 74 80
DIE KURATOREN
Die Kunsthistorikerin Ekaterina Degot (l.) ist seit Ende 2013 Leiterin der Akademie der Künste der Welt. Die Kuratorin Aneta Rostkowska (r.) absolvierte das De Appel Curatorial Programme in Amsterdam. Für die Ausstellung arbeiteten sie zusammen mit David Riff und dem Akademie-Team.
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