Gerhart Hauptmann beschrieb in „Die Weber“ 1892 das Elend der schlesischen Weber, die durch Industrialisierung, Lohnkürzungen und Mechanisierung in ihrer Existenz bedroht sind. Armin Petras holt das Stück am Schauspiel Köln zurück auf die Bühne.
Die Uraufführung geriet zum Skandal. Als Gerhart Hauptmanns brutales wie ergreifendes Sozialdrama „Die Weber“ 1892 erstmals auf die Bühnen kam, rebellierten viele Zuschauer. Die Beschreibung des sozialen Elends der schlesischen Weber, die durch Industrialisierung, Lohnkürzungen und Mechanisierung in ihrer Existenz bedroht sind, sprengte damals alle Vorstellungen. Nie zuvor hatte ein Autor derart drastisch die Armut von Arbeitern geschildert und dabei nicht nur Einzelschicksale, sondern ein Kollektivs ins Zentrum gestellt. Ein Gespräch mit Armin Petras der „Die Weber“ am Schauspiel Köln inszeniert.
choices: Herr Petras, wie gut ist Ihr Schlesisch inzwischen?
Armin Petras: Besser als vorher. Nicht nur weil das Stück von Hauptmann ein Kunstschlesisch benutzt, sondern weil ich über Weihnachten und Silvester in der Region um das Eulengebirge, das Zittauer Gebirge und in der Böhmischen Schweiz war. Das ist ein Raum, der heute auf drei Länder aufgeteilt ist, der aber kulturgeschichtlich zusammengehört. Was Hauptmann in den „Webern“ benutzt, ist kein Schlesisch, wie es dort gesprochen wird, sondern eine Kunstsprache mit vielen Anklängen.
Wie gehen Sie damit auf der Bühne um?
Wir benutzen nicht die „original“-schlesische erste Fassung des Stücks, die schon beim Lesen Probleme bereitet. Wir versuchen, die Kunstsprache da beizubehalten, wo sie für ein heutiges Publikum verständlich ist. Es gibt aber auch Momente im Stück, wo eine Figur hochdeutsch spricht, weil sie zum Beispiel einen bestimmten Machtanspruch verkörpert wie der Fabrikant Dreißiger.
Hauptmann beschreibt eine Armut, die in ihrer Drastik unfassbar ist. Wie lassen sich solche Lebensumstände heute auf die Bühne übersetzen?
Das spricht ein Thema an, das mich sehr bewegt: Nicht nur, ob man, sondern wie man Armut auf der Bühne darstellen kann. Wir versuchen Hauptmann aus der Zeit des Expressionismus, der späten Käthe Kollwitz und des frühen Brecht, zu sehen. Also die Sprache im Sinn eines „O Mensch“-Pathos auszustellen, das von Hauptmann so noch gar nicht gemeint war. Gleichzeitig betonen wir den Bezug zum epischen Theater – dass eine Figur zum Beispiel sprachlich und gestisch in eine Extremsituation geht, der Darsteller aber deutlich macht, dass er das nicht ist, sondern eben ein halbwegs gut verdienender Schauspieler am Kölner Stadttheater. Und drittens übersetzen wir die Armut beispielsweise der Mutter im zweiten Akt in die Lebenssituation und die Probleme des heutigen Prekariats.
Gibt es eine solche Armut in Deutschland?
Eine solche flächendeckende brutale Armut gibt es heute in Mitteleuropa nicht mehr. Aber das Gefälle zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die Unmöglichkeit, dieses Gefälle zu überwinden und in einer Gesellschaft des sozialen Miteinanders zu leben, ist in Köln viel deutlicher zu sehen als in Stuttgart, wo die Stadtgesellschaft homogener erscheint. Das kann man auf der Bühne darstellen. Vor 15 Jahren hätte ich Probleme gehabt, dieses Stück zu inszenieren, heute empfinde ich das anders. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft und die Hilflosigkeit dürften vermutlich zu den Wahlerfolgen der AfD beigetragen haben.
Welche Rolle spielt überhaupt das Weber-Milieu in Ihrer Inszenierung?
Das Bühnenbild ist ein großes Gewebe, das für den Webstuhl oder das gesellschaftliche Gewebe steht, in das alle Figuren verstrickt sind. Ich glaube, wir sind mit diesem Stück auch auf einer Reise in die Industrie- und Wirtschaftsgeschichte. Theater funktioniert für mich grundsätzlich über Distanzierung und Engagement. Ich schaffe ein Bild, das die Distanz zu diesem fremden Text, zu einem Geschehen vor 170 Jahren formuliert. Darüber entsteht dann aber auch eine Nähe zur Gegenwart wie bei der Figur des Fabrikanten Dreißiger, dessen Sätze zu Zöllen oder ausländischen Märkten wie aus der „Wirtschaftswoche“ von vor zwei Monaten klingen.
Lassen sich die heutige Industrie 4.0-Ankündigung und die Automatisierung der Webstühle bei Hauptmann als parallele Ereignisse verstehen?
Absolut. Die Revolutionäre am Ende des vierten Aktes der „Weber“ sagen, das eigentliche Problem seien die Webstühle, die müssten sie zerstören. Hauptmann betrachtet das aber noch nicht in Hinblick auf globale Entwicklungen. Dazu fehlten ihm die Mittel, über die dann später Sinclair oder Döblin verfügten. Hauptmann beschränkte sich klugerweise auf die Beschreibung der Weber vor Ort.
Hauptmann stellt ein Kollektiv ins Zentrum, das aber nicht als Kollektiv mit Klassenbewusstsein rebelliert, sondern schlicht aus Hunger. Wir leben heute in Zeiten, in der Kollektive wie ein Relikt wirken.
Ich bin kein Freund von Superlativen. Aber wie Hauptmann aus individuellen Nöten und Sehnsüchten eine Bewegung entstehen lässt, die an einem bestimmten Punkt in einen Aufstand mündet, der schnell niedergeschlagen wird – das ist großartig. Man versteht sehr viel über heute. Wir haben mit dem Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge gesprochen, der uns die Formen relativer und absoluter Armut erläutert hat. Er glaubt nicht an einen Aufstand von unten, weil es an Solidarisierung mangelt. Er glaubt auch nicht an einen Aufstand von oben. Einen Anschub erhofft er sich ähnlich wie ’68 durch eine außerparlamentarische Opposition, die sich aus der Schüler- und Studentenbewegung formiert. Bei den „Webern“ von Hauptmann ist das in der Tat so: Die jungen Weber treiben den Aufstand voran.
Halten Sie das für realistisch?
Ich glaube nur an meine Erfahrung, dass das Leben ein langer dreckiger Fluss ist, der meistens genauso weitergeht. Und nur manchmal in eine andere Richtung fließt und gelegentlich sogar noch dreckiger wird. Heiner Müller sagte am Ende seines Lebens einen schönen Satz: Ohne Hoffnung und Verzweiflung. Das ist ein Motto für mich.
Wenn Sie aus der Perspektive der 1920er Jahre auf das Stück schauen: Proletarisieren sich die Weber im Laufe des Stücks?
Ja. Für die Darstellung bedeutet das, dass es eine Uniformisierung geben wird. Ich habe mehrfach Oper, aber noch nie ein Schauspiel mit 18 Darstellern inszeniert. Das funktioniert nur, wenn man diese Gruppe als Chor im Sinn von Einar Schleef denkt. Also nicht als antiker Chor, der gemeinsam spricht, sondern dass man die Weber als Chor denkt, der als Gruppe kenntlich ist. Es wird symbolisierte und strukturalisierte Handlungen geben, die nicht mehr naturalistisch sind, sondern eine Mischung aus Realismus, Expressionismus und Choreografie darstellen.
Kennen Sie irgendein zeitgenössisches Drama, das derart drastisch ökonomische Zustände beschreibt?
Ich fühle mich jetzt mindestens zweieinhalbfach betroffen: halb als Intendant. Ich bin seit elfeinhalb Jahren im Amt – erst am Maxim Gorki Theater, dann am Schauspiel Stuttgart – und habe solche Stücke immer gesucht, aber bis heute nicht gefunden. Betroffen bin ich auch als Autor. Ich habe einige Stücke verfasst, die einen Teil dieser Problematik beschreiben, aber natürlich weder in der Qualität, noch in der Quantität wie Hauptmann. Und drittens muss ich als Regisseur sagen: Diese Stücke gibt es in dieser Qualität derzeit einfach nicht und deswegen halte ich es für legitim, auf Hauptmann zurückzugreifen.
Woran liegt das?
Ich kenne keinen Autor oder keine Autorin, die das kann. Wenn man sich die Fernsehserie „Babylon Berlin“ ansieht, dann muss man sagen: Die Besten sind offenbar nicht mehr im Theater, sondern beim Film.
„Die Weber“ | R: Armin Petras | 2.2.(P) 19.30 Uhr, 6.2. 19 Uhr, 17., 25.2. 18 Uhr, 18.2. 15 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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