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Paul Herwig als Thomas Stockmann in „Ein Volksfeind“
Foto: Thomas Aurin

Populisten aufs Maul geschaut

30. Juni 2016

Roger Vontobel inszeniert „Ein Volksfeind“ im Depot 1 – Auftritt 07/16

Es gibt gegrillte Wurst und Bier, auch für die Zuschauer. Beim Betreten des Depot 1 entsteht kurz der Eindruck, auf eine Gartenparty geladen zu sein, statt zur Inszenierung von Henrik Ibsens „Ein Volksfeind“. Schauspieler Thomas Brand gibt den Party-Musiker mit Mariachi-Klängen von der Gitarre, während die Kinder von Thomas Stockmann (Paul Herwig), Kurarzt und Gastgeber der Party, zwischen den Beinen des Publikums herumwuseln, mit Eishockeyschlägern Ball spielen und schließlich zu einem Schlagzeugsolo von Stockmann eine Breakdance-Einlage geben. „Wer ein Bierchen will oder Würstchen, einfach melden, wir bringen das dann!“ Das lassen sich viele Zuschauer nicht zweimal sagen und greifen beherzt zu, um anschließend noch zum Tanz gebeten zu werden.

Ein ebenso überraschender wie überschwänglicher Beginn von Roger Vontobels Inszenierung des Ibsen-Klassikers, der von der Gartenparty fast unmerklich in die dramatische Handlung gleitet. Erst mit dem Erscheinen von Peter Stockmann (Bruno Cathomas), Bruder von Thomas und Bürgermeister der Stadt, geht der Party die Luft aus. Peter spürt, dass Thomas was ausheckt. Heimlich hat er eine Wasseruntersuchung in Auftrag gegeben, die beweist, dass das angebliche Heilwasser in Wirklichkeit eine giftige Kloake ist, die aus den alten Gerbereien stammt. Für die Stadt, deren junger Wohlstand sich allein auf die heilende Kraft des Wassers gründet, eine Katastrophe. Doch im Verbund mit Hovstad (Robert Dölle), dem Redakteur des Volksboten, und Aslaksen (Jörg Ratjen), dem Drucker und Vorsitzenden des Hausbesitzervereins, besteht die Chance, den Skandal zur Neuordnung der Machtverhältnisse in der Stadt zu nutzen. Sie brennen auf die Veröffentlichung der Ergebnisse, bis ihnen der machtbewusste Bürgermeister die Kosten vorrechnet. Abgesehen von der Negativpublicity, würde es mehrere hundert Millionen kosten, ein neues Wasserwerk plus Leitung zu bauen; die Bauzeit würde drei Jahre dauern. „Und du weißt ja, wie lange Bauten sich verzögern können“, sagt Stockmann, ein Ausspruch, den das Theaterpublikum vor dem Hintergrund der sich immer weiter verzögernden Schauspielhaussanierung mit einem beherzten Lacher quittiert.

Die Bühnensituation – Claudia Rohner stellt der Haupttribüne zwei kleinere gegenüber – gibt der Inszenierung ihre spezielle Brisanz. Es entsteht eine Agora, in der die Zukunft der Stadt debattiert wird. Hier treffen Prinzipienreiter auf Umfaller, Fundamentalisten und Populisten auf nüchterne Pragmatiker. Die Entzauberung der Saubermänner beginnt. Ein bisschen Druck des Bürgermeisters reicht aus und Redakteur Hovstad und Vereinsmeier Aslaksen kippen um. Für Hovstad steht plötzlich nicht mehr die Wahrheit im Zentrum seines Schaffens, nein, er glaubt es sei die oberste Pflicht eines Redakteurs „mit seinen Lesern übereinzustimmen“. Thomas‘ Frau Kathrine (Katharina Schmalenberg) kommentiert dies mit „Lügenpresse“. Im Verbund erklären Hovstad, Aslaksen und der Bürgermeister Thomas zum „Unruhestifter“, zum „Volksfeind“. Der ist hingegen besoffen von Idealismus und Aufklärungswillen und will die Stadt retten, ob sie will oder nicht. „Und wenn die ganze Welt in Stücke fällt, ich krieche nicht zu Kreuze“, sagt Thomas. Selbstgerecht zeigt er seine ignorante Fratze. Lieber will er die Stadt ruinieren, als dass sie „auf einer Lüge blüht“.

Vontobel inszeniert auf dem Marktplatz der Meinungen einen regelrechten Politikrimi, in dem ein hervorragendes Ensemble die Mechanismen des grassierenden Populismus bestechend freilegt. Und ja, man möchte nach der Aufführung den links-paternalistischen Bühnenstürmern vom Birlikte-Festival zurufen: Theater kann das!

Die letzte zynische Wendung hätte Dramaturg Thomas Laue ruhig seinen flotten Strichen opfern können. Thomas wird von seinem Schwiegervater, dem bauernschlauen Gerber Morton Kiil (Paul Faßnacht) zum Spekulanten gemacht. Er hat Kurbad-Aktien mit dem Erbe seiner Tochter billig erworben und damit das Schicksal von Thomas und seine Familie an den Erfolg des Kurbads gekettet – wie einst die Götter den Prometheus an den Kaukasus.

„Ein Volksfeind“ | R: Roger Vontobel | So 3.7. 18 Uhr | Schauspiel Köln, Depot 1 | 0221 284 00

BERNHARD KREBS

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