Chefdramaturgen sind Schattengewächse. Sie stiften an, netzwerken, kritisieren, organisieren – im Scheinwerferlicht stehen sie dabei nicht. Bei Thomas Jonigk, dem neuen Chefdramaturgen des Schauspiel Köln, ist das anders. Er hat sich seit Jahren nicht nur als Autor einen Namen gemacht, sondern auch als Regisseur. Am Schauspiel Köln inszeniert er nun Heinar Kipphardts Stück „Bruder Eichmann“.
choices: Herr Jonigk, was hat Sie gereizt, den Posten des Chefdramaturgen am Schauspiel Köln zu übernehmen?
Thomas Jonigk: Bei mir sind verschiedene Überlegungen zusammengekommen. Ich war vor gefühlten einhundert Jahren Chefdramaturg am Schauspielhaus Wien, dann mit eher halbfesten Verträgen in Düsseldorf und Zürich, habe aber zwischendurch immer wieder als Autor und Regisseur gearbeitet. Dann kam die Anfrage von Stefan Bachmann, mit dem mich eine lange Arbeitsbeziehung seit den 1990er Jahren und auch eine Arbeitsfreundschaft verbindet. Außerdem habe ich hier am Kölner Schauspiel schon ein paar Mal inszeniert und kenne das Haus gut. Das Angebot kam gerade zu Beginn der Corona-Epidemie, und mich hat die Herausforderung gereizt, wie ein Theater auf diese Zeit reagieren kann. Corona bedeutet zwar eine Belastung, ist aber auch kreative Herausforderung. Und schließlich kommt der Reiz des Umzugs in ein neues Haus 2024 dazu, das dann technisch auf dem höchsten Niveau sein wird.
„Ich werde mich verstärkt um Diversität und Antidiskriminierung bemühen“
Sie haben in den letzten Jahren verstärkt inszeniert. Nehmen Sie mit der neuen Stelleauch einen Verlust in Kauf?
Es ist kein Verlust, aber eine Veränderung. Ich habe in den letzten acht Jahren nur geschrieben und inszeniert. Deshalb war es eine Bedingung für mich, eine Inszenierung pro Spielzeit zu machen, sonst wäre es ein zu starker Bruch für mich gewesen. Stefan Bachmann hat mich aber schon mehrfach als Regisseur nach Köln geholt, ich weiß also, dass er meine Arbeit auch schätzt.
Können Sie thematische Schwerpunkte oder Leitlinien für die nächsten Jahre benennen?
Ich werde mich verstärkt um Diversität und Antidiskriminierung bemühen. Wir arbeiten gerade an einem Code of Conduct. Künstlerisch bedeutet das, dass wir uns bemühen, verstärkt Regisseurinnen ans Haus zu holen. Allerdings immer unter künstlerischen Gesichtspunkten, nicht um der Quote willen. Gleichzeitig lege ich Wert darauf, dass der Begriff Diversität weiter gefasst wird. Es gibt sehr wenig Homosexuelle am Schauspiel Köln. Dann wollen wir mehr Mitarbeiter unterschiedlicher Ethnien im Ensemble haben. Wir haben gerade mit Paul Basonga und Kei Muramoto zwei neue Schauspieler engagiert, die in Thomas Melles Stück „Ode“ spielen und eine große künstlerische Bereicherung darstellen.
„Wir leben in einer Opfer-Gesellschaft“
Sie inszenieren zum Einstand Heinar M. Kipphardts „Bruder Eichmann“. Was macht Adolf Eichmann zu unserem „Bruder“?
Ich habe mich mit dem Nationalsozialismus und dem Prozess um Eichmann nochmal beschäftigt, weil mich dieses Täterprofil interessiert hat. Für mich ist Eichmann so interessant, weil wir in der Gegenwart ihn eindeutig als Täter bezeichnen würden, er sich selber aber als Opfer begreift. Und diese Verquickung empfinde ich als sehr zeitgenössisch. Wir leben in einer Opfer-Gesellschaft. Viele haben das Gefühl, zu kurz zu kommen und empfinden sich als Opfer der Umstände, des Staates, der Politik, der Geflüchteten oder was auch immer. Also es gibt so eine Tendenz, die Verantwortung abzugeben und andere dafür in die Pflicht zunehmen. Das führt, extrem zugespitzt, direkt zu Eichmann, der von sich sagt, dass er für sein Handeln nicht verantwortlich sei, sondern der Staat. Er sieht sich als Opfer der Justiz und der öffentlichen Wahrnehmung, da er nicht handgreiflich mit einer Waffe gemordet habe, wie er sagt. Das ist ein Wahrnehmungsmuster, das die Frage stellt, was macht einen Täter und was macht ein Opfer aus?
Hat Kipphardts Stück, so wie es dramaturgisch aufbaut ist, nicht auch etwas Monodramtisches in dem wiederkehrenden Setting der Befragung?
Ja, das Stück hat, obwohl es dialogisch ist, etwas sehr Monologisches. Es gibt die schöne Aussage: „Eichmann is monologue / Eichmann bedeutet Monolog“. Wir gehen den Abend hauptsächlich monologisch an. Mein Gedanke war immer, dass Eichmann sein eigener Regisseur und sein eigener Spieler ist. Er hat damit die Möglichkeit, alle Facetten des Echten und alle Facetten des Manipulativen auszuspielen. Wir, also der Schauspieler Jörg Ratjen und das Team, sind auf der Probe sehr inspiriert, weil das eine unglaubliche Wanderung in die menschliche Psyche ist. Meine Hoffnung wäre, dass man irgendwann gar nicht mehr darüber nachdenkt, ob das jetzt eine historische Figur ist oder nicht.
„Ich bin überzeugt, dass Eichmann ein Gewissen hatte“
Schon Hannah Arend hat in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ die Frage gestellt, ob Eichmann überhaupt ein Gewissen hat. Wie sehen sie das?
Ich bin überzeugt, dass Eichmann ein Gewissen hatte. Jeder hat irgendeine Art von Schuldbewusstsein, also ein Rechts- und Unrechtsbewusstsein, davon bin ich überzeugt. Das lässt sich selbstverständlich in unterschiedlichste Richtungen dehnen. Hätten wir aber kein Gewissen, wären wir Maschinen oder Sadisten und daran will ich nicht glauben. Dann wäre auch eine Figur wie Eichmann für mich nicht interessant. Ich möchte schon wissen, dass da –und sei es noch so verdreht –in ihm irgendwas arbeitet.
Es gibt im Stück zahlreiche sogennante „Analogieszenen“, die vom Atombombenabwurf bis zum RAF-Terrorismus reichen. Wie gehen Sie damit um?
Die Analogieszenen werde ich nicht machen, das habe ich mit dem Verlag abgesprochen. Wir wissen heute, dass hinter solchen Taten nicht nur böse Individuen stehen, sondern dass diese Taten eine umgreifende Systematik beinhalten, also ein Staat oder ein ideologisches System – ohne dass deswegen die persönliche Verantwortung ausgehebelt wird. Dazu dienen Kipphardt diese Analogieszenen, die allerdings inzwischen selbst historisch sind.
Bruder Eichmann | R: Thomas Jonigk | 23.10.(P) | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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