Vom 23. bis zum 26. März schmiss unsere Britney, die Außenspielstätte des Theaters am Offenbachplatz, ein Fest und strich kurzerhand die Rollenbilder neu, grell und neonfarben an. Vier Tage gab es unter „Britney X“ jede Menge Theater, Musik und Tanz, Politik und Performance zu Gender, Sex und Feminismus, um das alte System der Rollenbilder zu provozieren, dekonstruieren und mit neuer Pussypower alte Dogmen abzuschütteln.
Die Sonne brennt fast sommerstark auf den Offenbachplatz nieder, wo Oper- und Schauspielhaus noch immer saniert werden, während die Frühlingsluft vom 7411-Haus her die Glockenspiel-Melodie des treuen Husaren herüberträgt. „Hit me baby one more time“ wäre heute zur Feier des Tages angebrachter, denn das junge & wilde Schauspielhaus feiert, in seiner seit September 2016 eröffneten Location, ein viertägiges Festival, das all die favorisierten Themen und Fantasien seiner Mimen vereint. Pam! Diese geballte Themenpower trifft wirklich. Britney hat es so gewollt! Die junge Dame unter den Schauspielhäusern bekommt, was ihr gebührt. Eine sexy-smarte Mischung von popkulturellen Themen bis hin zu wissenschaftlichen Lesungen.
Normalerweise wird das Haus von Donnerstag bis Sonntag bespielt. Frisch und rough wirkt es und ist dabei gleichzeitig gemütlich und nicht stylish, nein, das wäre ein Schimpfwort für Britney‘s Stil. Ja, die junge Dame ist einfach cool und hat Style. „Britney ist ein Ort für wilde Fantasien, die Schaffung spielerischer Freiräume, Fantasiewelten, sinnliche Zeitverschwendung und Wunschproduktion.“ An diesem Wochenende ist sie wirklich großartig, gut, kräftig, widersinnig, wirr, unüberhörbar und queer.
Pinar Karabuluts dunkle Mähne umrahmt ihr strahlendes Lachen, welches mit rotem Lippenstift versehen ist. Sie ist gemeinsam mit Andrea Imler, Matthias Köhler und Charlotte Sprenger („Kleines“) eine der vier Kuratoren und sprudelt vor Enthusiasmus, als sie von Britney X, in unserer Britney, der Kölner Britney erzählt. „Das Festival ist der Höhepunkt der Spielzeit und wir können alles – wirklich alles was wir wollen – einmal so konzentriert darbieten!“ Die Dichte des Programms ist in der Tat sagenhaft. Es reicht von A, wie Anal Anarchy Yoga, bis Z, wie Zuckerwatte für sensible Mädchen. Aber auch harte Themen haben hier Raum. In „Rape Revisited“ erzählt Mithu M. Sanyal, die Autorin von „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ über sexuelle Gewalt und stellt die Frage, wie wir darüber sprechen. In „underneath my skin“ fügt sich die Performerin Sofi Utikal hingegen freiwillig etwas Schmerz zu. Sie bekommt live ein Tattoo auf den Allerwertesten genadelt.
„Britney ist intellektuell, voller Hoffnung, knallig und hat einen hohen emotionalen IQ.“ Dementsprechend beschäftigt sie sich auch mit Transhumanismus, einer Denkrichtung, welche die physischen und psychischen Grenzen des Menschen durch technologische Verfahren erweitern will und dem Fortschritt huldigt. Drogen und Robotik sind längst Teil unserer Brave New World. Es ist also an der Zeit uns eingehend damit zu beschäftigen, wohin unsere Wunschvorstellungen von Körper und Geist uns überhaupt führen, um nicht einfach nur blind Richtung Zukunft zu hecheln. „Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf“, empfahl uns Nietzsche. Die Menschheit, im stetigen Prozess der Selbst-Optimierung, hat neue Maßstäbe der Machbarkeit erreicht. Und sie sprengt täglich den Rahmen in Richtung Cyber-Self. Also stellt Britney X, im Vortrag von Lisbeth N. Trallori (Soziologin und Politikwissenschaftlerin), die Frage: Werden Frauen zukünftig überhaupt noch Kinder bekommen oder reift das Kind der Zukunft, vom sorgfältig auserwählten Samen-Spender, in einem künstlichen und technisch einwandfreien Uterus heran? Mensch, wo willst du hin?
Britney X feierte ebenso die neuen Freiheiten für Lebensweisen, die vor wenigen Jahren noch schräg angeguckt wurden. Rollenbilder sind nicht nur neu definiert, sondern es sprießen auch gänzlich neuen Formen wie Frühlingskrokusse. Britney hat all die Femmes und Butches, die bi-, pan- und sapiosexuellen („erotische Hingezogenheit zum Intellekt einer anderen Person) zum Tanz geladen. „Hier ist nichts und niemand ausgeschlossen.“ Hastag – Queerness, Hashtag – Diversity, Hashtag – Empowerment.
Bleibt noch die Frage, ob Beyoncé nun eine Feministin ist oder nicht? Dies konnte man am besten selber herausfinden beim „Don´t Worry Be Yoncé“-Workshop, mit einem praktischen 10-Stufen-Programm, mit dem jeder zu Beyoncé werden kann. Wer dann auch schon am Nachmittag sein Becken beim Pussy Empowerment Yoga geöffnet hatte, konnte abends bei der Party vermutlich ziemlich locker die Hüfte kreisen lassen und vielleicht einmal alle Rollen abschütteln und einfach das Leben feiern – als Mensch.
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