Engelbertstraße. Einmal kurz ist eine verwackelte Filmaufnahme des Straßenschildes zu sehen. Hier hat er gewohnt, jener zornige Schriftsteller, dem in Köln posthum eine literarische Heldenverehrung zu Teil wird: Rolf Dieter Brinkmann. Einen Roman hat er geschrieben – und weil es gerade schick ist, Prosa auf die Bühne zu bringen, hat sich das Schauspiel Köln an eine Adaption gemacht. Regie führt Stefan Nagel, Jahrgang 1981 und damit in einem ähnlichen Alter wie Autor und Protagonist, was vielleicht ein Grund für den modischen Retro-Look der Inszenierung ist, für den Versuch, das Gestern – 1968 – im Heute zu spiegeln. Unterlegt von einem Klang- und Musikteppich (zum Teil live: Julia Klomfass) legt Nagel eine medienplurale Interpretation des Brinkmann-Universums vor, die bei aller Drastik freundlich und nett – zu nett – bleibt.
„Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr“ sagt Schauspieler Orlando Klaus die Produktion an, das Buch in der Hand. Eine Wohnung wird eingerichtet: bräunlich gemusterte Tapeten, ein Schreibtisch mit Wählscheibentelefon, ein Waschbecken, eine Kleiderstange. Knallgelbe Lackstiefel für Jennifer Frank, eine waldgrüne Cordhose für Christoph Luser. Orlando Klaus tauscht sein Hemd gegen eines mit Spitzkragen, dem Outfit von Rainer, dem schwulen Mitbewohner der heterosexuellen Kleinfamilie ohne Namen. Gerald, als sexistischer Konterpart, wird ebenfalls (mit Sonnenbrille) von Klaus verkörpert. Überhaupt sind die Grenzen der Figurenzuordnung fließend: Sie, Er, die beiden Freunde – die drei Schauspieler sind Stimme eher denn Rolle, die Erzählperspektive ist immer die des Er.
Und Er kann nicht arbeiten. Das Wohnen an sich, die Enge, die Nähe der Anderen, ihre Geräusche halten ihn vom Arbeiten ab. Sein Gefühl: eingesperrt, eingeengt, überfordert, abhängig. Die Beziehung zu ihr ist alt und festgefahren, noch ehe sie begonnen hat. Ehealltag statt freier Liebe. Sex ohne Erotik, die Frau als Objekt. Christoph Luser verleiht diesem Er eine Präsenz, die sehr aktuell daher kommt und die als männliches Psychogramm gesehen werden kann. Er ist ein rücksichtsloser Egoist, beziehungsunfähiger Intellektueller und ein Künstler, der dem Leben Literatur abpresst. Zurückhaltend tollpatschig in seiner Vaterschaft, vulgär, brutal in seinem Freiheitsdrang und vor allem: getrieben, gehetzt und um sich selbst kreisend. Die Angst vor dem Stillstand, die doch nur ein Auf-der-Stelle-treten ist, haben Nagel und sein Bühnenbildner Jens Kilian in einem überdimensionalen Laufband visualisiert, auf dem sich die Drei (Luser, Klaus und Frank) schließlich in ein fiebriges Rennen hineinsteigern. Es passiert nicht viel in diesem Roman, vielmehr ist es ein Strom von Gedanken, Gefühlen, Alltäglichkeiten, Wutausbrüchen. Stefan Nagel konzentriert sich in seiner Fassung auf die Privatheit der Kleinfamilie und vermeidet eine gesellschaftspolitische Analyse. Schade.
„Keiner weiß mehr“ von Rolf Dieter Brinkmann | R: Stefan Nagel | Schauspiel Köln (Schlosserei) | Wiederaufnahme im Oktober
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