Oft sind es nur Bilder, die die Zeit überdauern, selbst Musik hat eine viel kürzere Halbwertzeit. Wenn die Noten auch noch von einer Frau des 17. Jahrhunderts stammen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie sich im Kontinuum der Speichermassen verlieren. Der Jazz-Komponist Georg Graewe hat sich auf eine Forschungsreise in die Welt der Barbara Strozzi begeben, die 1619 in Venedig geboren wurde und als Sängerin und Komponistin und vermutlich auch als Kurtisane in der Stadt auf Stelzen Berühmtheit erlangte. Graewe macht als Auftragswerk aus ihrem Leben ein Stück experimentelles Musiktheater. „Barbara Strozzi oder die Avantgarde der Liebe“ wird, nach der Uraufführung am Luzerner Theater, im Alten Malersaal in Bonn erstaufgeführt.
Schon das erste Solo von Stephanie Wüst als Barbara Strozzi setzt einen dramatischen Punkt. Mit schrägen Intervallen bis in die höchsten Lagen, die Trommelfelle merken den Druck ihrer Stimme in den relativ knappen Kubikmetern Luft. Auf der kleinen Bühne eine rot getönte Galerie mit Flachbildschirm-Flächen, die als Meisterwerke, als Szenen oder als Durchreiche dienen. Man rüstet sich zur Vernissage, an die sich insgesamt noch 30 weitere Szenen anschließen. Das Leben der Strozzi als kultiviertes Häppchen. Dabei sei der Textvortrag Herrin des musikalischen Satzes und nicht Dienerin, ein Satz von Monteverdi, der hier nicht nur im Libretto, sondern auch an der Übertitelung ernst genommen wird. Die Musik der Strozzi selbst kommt nicht vor. Graewe nutzt ihr schillerndes Leben als ungewöhnliche Matrize für seine eigene Komposition, die sich als Ganzes aus kleinen Gesangs-Passagen, Texten und Fetzen mit Megaphon, Tonband und Orchester zusammensetzt, aber augenscheinlich bewusst keine Dramaturgie enthält. Die kleine Besetzung des Bonner Beethoven Orchesters unter der Leitung von Wolfgang Lischke arbeitet präzise hinter der Kulisse.
Barbara Strozzi wird als uneheliche Tochter einer Hausangestellten geboren und vom wohlhabenden Dichter und Librettisten Giulio Strozzi adoptiert. Er dürfte auch der leibliche Vater sein, denn er finanzierte ihr eine ausgezeichnete Ausbildung, insbesondere auf musikalischem Gebiet. Doch das Frauenbild der damaligen Zeit ließ eine Karriere in diese Richtung nicht zu, Auftritte und Vorspiel der Kompositionen waren nur innerhalb des Elternhauses möglich. Strozzi, die neben Noten auch sehr gut mit Geld umgehen konnte, wurde eine begehrte Kurtisane in Venedig. Hier rutscht die Inszenierung von Jörg Behr ein wenig ab, zu anbiederisch zeitgenössisch wirken die Szenen, in der die drei Männer (sehr überzeugend: Bass Renatus Mészár, Tenor Christian Specht und Bariton Giorgos Kanaris) über die Bezahlmöglichkeiten der Preisliste Strozzis informieren. Auch die Nutzung von englischer, deutscher, italienischer Sprache und Latein in den Gesangspassagen erschließt sich auf den ersten Blick nicht, allerdings ist die unterschiedliche Sprachfarbe wohl Teil des kompositorischen Konzepts, das allerdings ein klein wenig mit der Akustik des Alten Malersaals kollidierte.
Als letzten Ausbruch kippt die Strozzi am Ende noch eine Galeriewand um und das Innere des Systems Musiktheater wird offenbart, doch die Männer richten die Ordnung wieder her, das Tonband läuft in der Stille aus. Der interessante kulinarische Abend mit dem Charme einer szenischen Lesung auch, bleibt aber sehens- und hörenswert.
„Barbara Strozzi oder die Avantgarde der Liebe“ von Georg Graewe
R: Jörg Behr
Fr 15.4. 19.30 Uhr
Alter Malersaal Bonn
0228 77 80 08
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater am Rhein 01/25
Ausweg im Schlaf
„Der Nabel der Welt“ in Köln – Theater am Rhein 01/25
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24
Schöpfung ohne Schöpfer
Max Fischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 05/24
Zeit des Werdens
„Mädchenschrift“ am Comedia – Theater am Rhein 05/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24