Rosi ist ein Sonntagskind. Das sagt sie jedenfalls von sich selbst. Dabei ist Rosi fast blind und gehbehindert. Schon im Kindesalter hatte sie Probleme mit den Augen und musste etliche Behandlungen und Operationen in der Schweiz über sich ergehen lassen. Doch Rosi hat einen Traum. Finnland. Ihren Gebrechen zum Trotz reiste sie mit 58 für zweieinhalb Jahre an den Polarkreis und lebte in dem ihr fremden Land. Heute, zehn Jahre später, bleibt Rosi die Sehnsucht nach dieser anderen Welt.
In „Nur Utopien sind noch realistisch“ gibt das Analogtheater in der Studiobühne Rosis Lebensgeschichte in einer Art Doku-Performance mannigfachen Ausdruck. Da gibt es wortgewaltige Chor-Passagen, wühlende oder zitternde Performance-Einsprengseln des Ensembles (Dorothea Förtsch, Mario Högemann, Lara Pietjou, Ingmar Skrinjar) oder Video-Einspieler zu ohrenbetäubendem Trommelgewitter. Hinzu kommen zahlreiche Textpassagen, die aus Interviews mit Rosi stammen. Ihre Sicht auf die Welt, auf ihren Körper und ihre Gebrechen, auf ihre nur noch kurze Zukunft, sind anrührend und ohne Larmoyanz daher geplaudert.
Das alles für sich genommen wäre vielleicht ganz gut. Würde in der Inszenierung nicht verkrampft versucht, Rosis Heldengeschichte künstlich zu politisieren. Doch die Überhöhung ist bemüht. Mit dem titelgebenden Zitat von Sozialphilosoph Oskar Negt bekommt der Abend eine Unwucht, die nur Sinn vor dem Hintergrund der letzten Analogtheaterinszenierung „German Ängst“ in der Studiobühne macht. Damals thematisierte Schüßler gesellschaftliche Ängste, wie die vor der Islamisierung des Abendlandes, vor Altersarmut oder sozialem Abstieg. Denen wird nun Rosis Heldengeschichte entgegengesetzt. Das ist rührend, aber eben auch reichlich naiv. Naiv auch deshalb, weil dem Analogtheater der Unterschied zwischen Sehnsucht und Utopie flöten geht, was nicht passieren müsste. Sagt doch Rosi selbst im Stück: „Man darf Sehnsucht nicht mit Utopien verwechseln.“ Rosi taucht am Ende plötzlich im Theaternebel auf. Gestützt auf ihren Gehstock, den Daumen der anderen Hand lässig in die Hosentasche geklemmt, steht sie auf der Bühne einer Inszenierung, die kein Flop ist, aber eben auch nicht zu überzeugen weiß.
„Nur Utopien sind noch realistisch“ | R: Daniel Schüßler | 7.-11.3.2018 20 Uhr | Studiobühne Köln | 0221 470 45 13
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Die Entmystifizierung des Mannes
„Sohn meines Vaters“ in der Tanzfaktur – Prolog 11/23
Der unsichtbare Mantel
„Nacht“ am Theater im Bauturm – Prolog 04/22
Ich will tief leben
„Walden“ in der Studiobühne – Theater am Rhein 12/20
„Es ist schwer, die Schließungen zu verstehen“
Studiobühnen-Chef Dietmar Kobboldt über den kulturellen Lockdown – Interview 12/20
Konfrontation oder Flucht?
Vergangenheitsbewältigungen im Rheinland – Prolog 12/18
Die alte Leier
Dezember-Premieren in Köln – Prolog 11/18
Wahrnehmung aus dem Labor
west off 2018 an der Studiobühne – das Besondere 11/18
Die Erotik der Gleichheit
Overhead Project erzählt von der Würde der Körper – Tanz in NRW 11/18
Survival of the fittest im Fatsuit
Analogtheater zeigt „Die Psychonauten: Asche“ an der Studiobühne – Auftritt 10/18
„Die Urangst des Menschen, allein zu sein“
Das Analogtheater mit Konstantin Küsperts Monolog „Asche“ – Premiere 09/18
Auftakt zum Untergang
Saisonstart in Köln und Bonn – Prolog 07/18
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24