choices: Herr Fürst, wann steht uns der nächste Weltuntergang bevor?
Jörg Fürst: Das weißt natürlich keiner. Es gibt im Internet eine Liste mit angekündigten Weltuntergangsszenarien und wenn man der glauben will, geht die Welt mindestens dreimal im Jahr unter. 2012 steht deshalb im Fokus, weil sowohl der alte Mayakalender als auch Nostradamus den 21.12. als Untergangstermin vorausgesagt haben. Wir haben allerdings schon für April 2013 weitere Aufführungen für unser Stück terminiert. Ich bin also guter Dinge.
Sind es bestimmte Personen oder bestimmte Gruppen, die immer wieder den Weltuntergang beschwören?
In unserem Kulturkreis liegt der Ursprung für viele Prophezeiungen in der Bibel. Die Offenbarung des Johannes mit den vier apokalyptischen Reitern bildet die Keimzelle der meisten Weltuntergangsszenarien. Apokalyptische Theorien erfüllen immer auch eine Funktion, sie dienen zum Beispiel der Systemstabilisierung und Zementierung der Macht. Erst kürzlich wurde in Russland eine Sekte entdeckt, die über 20 Jahre in einem Kellerloch saß und auf den Weltuntergang wartete. Mit der Apokalypse kann man natürlich auch Geld verdienen. Der einzige Ort, der den im Mayakalender vorausgesagten Weltuntergang 2012 überleben wird, soll das kleine Dorf Bugarach in Südfrankreich sein. Es ist inzwischen zu einem Wallfahrtsort für Sekten und Gläubige geworden, die sich dort ansiedeln. Das Dorf macht damit eine Menge Geld.
Worum geht es in dem Buch „Exit Mundi“ von Maarten Keulemans, das dem Theaterprojekt zugrunde liegt?
Maarten Keuleman ist ein niederländischer Wissenschaftsjournalist und dekliniert in seinem Buch dreißig bis vierzig Untergangsszenarien durch, religiöse genauso wie technische, astronomische oder naturwissenschaftliche. Im Zentrum stehen allerdings naturwissenschaftliche Theorien wie Schwarze Löcher, der Klimawandel oder Meteoriteneinschläge. Das spannendste Szenario beschreibt die Lösung des Menschen vom eigenen Körper und die Verlagerung von Wissen und Bewusstsein in eine Datenwolke. Das meiste beruht auf wissenschaftlichen Fakten, die sind aber ziemlich witzig beschrieben.
Und welche Untergänge stehen im Stück des A.TONAL.THEATERS im Zentrum?
Wir konzentrieren uns auf religiöse Prophezeiungen, Schwarze Löcher oder auch das Verschwinden des Y-Chromosoms und damit des Mannes. Wir beschäftigen uns an dem Abend aber auch mit terroristischen Szenarien und zitieren dazu aus dem „Handbuch für die ultimative terroristische Tat“.
Der Untertitel des Theaterabends „Exit Mundi“ lautet „ein Hysterienspiel“. Warum?
Hysterie war der erste Begriff, der sich mit dem Projekt verbunden hat. Versteht man Hysterie im Sinne eines nicht erfüllten Bedürfnisses, begreift man, warum die Beschwörung von Apokalypsen für Medien, politische und religiöse Führer, auch für Privatpersonen eine Attraktivität hat. Kaum jemand findet heute noch einen Adressaten für seinen Zorn. Man merkt, es läuft falsch und wird auch so nicht mehr lange weitergehen, aber niemand weiß, wo er mit seinem Protest ansetzen soll. Insofern verheißen Untergangsszenarien immer auch einen radikalen Umsturz der Verhältnisse. In religiösen Vorstellungen führt die Apokalypse dann oft zu einem Moment der Reinheit, wenn der Gott wieder das Szepter übernimmt. Wir zitieren die Hindu-Gottheit Kalki, die als eine Art apokalyptischer Reiter in einer hedonistisch-verkommenen Welt erscheint und nur die Gläubigen davon kommen lässt. Danach gibt es einen kristallinen, reinen Moment und das ist nicht nur im Hinduismus, sondern in allen Religionen so. Der Apokalypse wird also auch ein kathartischer, reinigender Effekt zugeschrieben. Das ist insofern spannend, weil seit Aristoteles die Katharsis auch im Theater eine große Rolle spielt. Allerdings trauen wir heute dem Theater einen solchen Effekt nicht mehr zu.
Wenn wir die Finanzkrisen seit 2008 nehmen: Wer dreht an der Schraube der Hysterie? Die Politik, die Bürger, die Medien?
Das hysterische Element in unserer Gesellschaft sind die Medien, die als Mittler zwischen dem Einzelnen, Familien, gesellschaftlichen Gruppen und der Politik angesiedelt sind. In den Medien findet man heute mit einem Autounfall, bei dem drei Menschen ums Leben kamen, kaum noch Gehör. Themen wie der Zusammenbruch des Finanzsystems, der Klimawandel oder das Schmelzen der Polkappen garantieren viel größere Aufmerksamkeit. Man kann auch fragen, ob die Pole wirklich schmelzen oder ob die Forscher nur Forschungsgelder locker machen wollen mit ihren Theorien. Da nehmen wir uns auch selbst auf die Schippe. Auch wir als Theatergruppe haben mit diesem Thema Projektmittel akquiriert und sicher mehr, als es uns mit einem Abend zum Frauenbild bei Goethe gelungen wäre.
In Literatur und Film gehören Untergangsszenarien ins Genre der Science Fiction. Wie geht das A.TONAL.THEATER mit dem Material von Maarten Keulemans um?
Wir versuchen, verschiedene Ebene zu verschneiden. Es wird große Opernelemente geben, die das Thema auf einer poetischen Ebene anreißen. Danach wechseln wir auf eine eher kabarettistische Ebene mit drei Wissenschaftlern, die auf einer Tagung zum Thema „Apokalypse“ Vorträge halten. Es ist eine augenzwinkernde Auseinandersetzung mit dem Expertentum. Aber wir werden die Perspektive auch immer wieder erden durch einen Wechsel auf die individuelle, persönliche Ebene.
Worin liegt dieses persönliche Moment?
Die Besonderheit der Apokalypse liegt darin, dass der Einzelne in einer kollektiven Angst aufgeht, also sich in ein gemeinschaftliches Erleben einreiht, zugleich sich aber auch mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen muss. Im Moment des drohenden Weltuntergangs wird die Einsamkeit und Verlorenheit des Individuums besonders spürbar. Man wird sich im Angesicht der Katastrophe der eigenen Existenz bewusst und sieht sich auf die Frage zurück geworfen, was denn da eigentlich zu Ende geht - was also letztlich den Kern unserer Existenz ausmacht.
„Exit Mundi“ nach dem Sachbuch von Maarten Keulemans | Studiobühne | 8./10.-13.10./23./24.11. 19 Uhr, 25.-27.11. 20 Uhr | www.atonaltheater.de
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