Es gibt Topfpflanzen und Sofakissen, die Kneipe an der Ecke und den Friseur-Salon. Das Zeitschriftengeschäft bietet die St. Pauli Nachrichten, die Flaschen mit dem Korn stehen aufgereiht wie eine Musikkapelle, die Hausfrauen halten auf der Straße ein Schwätzchen und die Schokoladenhasen sind für Ostern schon gekauft. Eine Welt in sich, die Steinhammerstraße in Sichtweite der Zeche Germania in Dortmund. Hier ist Wilhelm Schürmann, Fotograf, Galerist und Kunstsammler, aufgewachsen. Nebenan wohnte der Maler Norbert Thadeusz und eine Ecke weiter der Künstler Bernhard Blume. 1979 verspürte Schürmann das Bedürfnis dieses Ruhrpott-Biotop von einem Kilometer Länge, das damals noch 70 Geschäfte beheimatete – heute keines mehr – zu fotografieren.
Aus den 2.000 Schwarzweißnegativen präsentiert er nun 180 Bilder in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur. Viel Material, das eng gehängt werden musste, die Qualität der Arbeiten etwas unter Wert präsentiert, aber hier ging es auch darum, eine Vorstellung von der Fülle des Projekts und den vielen Perspektiven auf die Details dieser kleinen Welt zu geben.
„Wegweiser zum Glück. Bilder einer Straße“ nennt Schürmann die Ausstellung. „Ich sah, wie jemand in die Gesäßtasche eine Zeitung steckte, die er wohl gerade in der Apotheke mitgenommen hatte. ‚Wegweiser zum Glück‘, die Werbung für's Lotto“. Also, tatsächlich aus dem Leben gegriffen. Ein gefährliches Spiel, die Welt des „Pütt“ als goldgepflasterte Straße zur Seligkeit zu bezeichnen, Zynismus oder romantischer Verklärung kann da ein stückweit die Tür geöffnet werden. Die Fotografien sprechen jedoch eine klare Sprache, sie betreiben keine sezierende Analyse und versuchen auch keine Lebenswelt zu entlarven. Im Blick auf den Gummischlauch am Wasserhahn, den Arzt in seiner Praxis oder den Wirtsleuten hinter dem Tresen wohnt eine liebevolle Zugewandtheit inne. Die Ahnung des Verlusts war zweifellos ein Motor für das Projekt, aber larmoyant ist es in keinem Moment. Im Gegenteil, die Freude, die Schürmann bei der Arbeit verspürt hat, überträgt sich zwischen den Bildern. Nur die Fotografie vermag das reale Inventar der Gegenstände und Emotionen so präzise im Bild festzuhalten. Als Schürmann vor einigen Monaten die Straße noch einmal besuchte, war er erschrocken darüber, dass sie inzwischen vollkommen verrottet sei, erzählt er.
Zu dieser sympathischen Ausstellung, in der man gerne viel Zeit verbringt, gesellt sich eine Kabinett-Ausstellung mit Neuerwerbungen von Fotografien und persönlichem Material aus Leben und Werk August Sanders. Und es gibt wieder Fotografien von Petra Wittmar zu sehen, die den Zustand ihres Geburtsorts Medebach im Hochsauerland zwischen 2009 und 2011 dokumentieren. Ein interessanter Blick auf deutsche Provinz und ihre verstädterte Architektur. Petra Wittmar zeigt, wie Stillosigkeit entsteht und man trotz einer sachlichen fotografischen Attitüde gleichwohl Atmosphäre einfangen kann.
Ausstellungen bis 12. August, tägl. Außer Mi 14-19 Uhr. Mo freier Eintritt. Mediapark 7
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