choices: Herr Mrosek, in Anja Hillings „Schwarzes Tier Traurigkeit“ trifft sich eine Gruppe von Menschen zum Picknick im Wald, verursacht einen Waldbrand und wird Opfer der Feuersbrunst. Worum geht es da eigentlich?
Tim Mrosek: Mich hat schon beim ersten Lesen fasziniert, auf welche Art Anja Hilling die Geschichte erzählt. Dieses merkwürdige Zusammenspiel von langen märchenhaften Prosapassagen und einem extrem hastigen Dialog im ersten Teil; der zweite Teil ist dann ein Schlag ins Gesicht eines jeden Regisseurs. Die Autorin gibt keinen Anhaltspunkten mehr, wer da eigentlich spricht. Man kann das teilweise erschließen, teilweise hat man keine Chance; trotzdem muss man eine Entscheidung treffen, und es war großartig, sich mit diesem Text auseinanderzusetzen und das zu beschließen. Der dritte Teil ist dagegen relativ klar szenisch durchstrukturiert, doch auch da ist interessant, dass für jede Szene ein anderer dramatischer Ansatz gewählt wird. Am Ende werden die Konflikte aufgelöst oder laufen ins Unklare.
Wie gehen Sie mit diesen langen Prosapassagen um?
Sie haben teilweise etwas von einem inneren Monolog. Aber wir sind ja in einer Theatersituation, und mir ist das Miteinander sehr wichtig, sowohl der Figuren als auch der Menschen, die auf der Bühne stehen. Für mich ist das also immer ein Dialog. Eigentlich geben die Figuren aber etwas wider, von dem man nicht weiß, wer da eigentlich spricht. Es ist aber nicht unsere Aufgabe herauszufinden, wer da gerade spricht, sondern die Geschichte zu erzählen.
Ist es überhaupt wichtig zu wissen, wer da spricht?
Manchmal schon, manchmal nicht. Und da kommen wir zu dem anderen Aspekt der Frage nach dem Thema des Stücks. Es geht um die Unplanbarkeit von allem, um den merkwürdigen Widerspruch, dass der Mensch eine metaphysische Sicherheit braucht, die Existenz aber keine Sicherheit zur Verfügung stellt. Anja Hilling hat das wunderbare Monstrum Liebe gewählt, um das deutlich zu machen, und das ist das eigentliche Thema.
Die Figuren sind bis auf zwei Ausnahmen um die vierzig Jahre. Ist das auch eine Frage des Alters, Stichwort Midlifecrisis?
De facto entsprechen meine Schauspieler nicht dem angegebenen Alter. Ich halte das allerdings für nicht entscheidend. Die Konflikte der Figuren sind für uns, die wir im Schnitt zehn Jahre jünger sich als die Figuren, genauso nachvollziehbar wie für jemanden um die Vierzig.
Worin liegt das Märchenhafte, von dem Sie vorhin gesprochen haben?
Märchen sind ja eigentlich die gesellschaftlich anerkannte Methode, um Kindern Angst zu machen und darüber zu erziehen. Die Figuren im Stück haben sehr viel Angst bzw. machen sie sich gegenseitig. Hinzu kommt dieses traumatisch-monströse Geschehen, dieser Waldbrand, der für mich weniger das Hauptmotiv als das Vehikel des Stücks ist. Andererseits ist der Wald natürlich ein klares Märchenmotiv. Es gibt einen Erzähler mit einer sehr lebendigen und metaphorischen Sprache; die Figuren sind auf den ersten Blick sehr klischeehaft gezeichnet; schließlich gibt es sehr viele Elemente des Märchens wie Sehnsucht, Liebe, Tod und Verzweiflung. Anja Hilling macht daraus ein klares Antimärchen, indem sie Hoffnungen aufbaut und die Figuren einfach so wieder fallen lässt.
Anja Hilling überschreibt ihr Stück mit Zitaten aus einer homerischen Hymne an Dionysos von Henry David Thoreau? Ist Natur also wirklich nur ein Vehikel?
Natürlich geht es da auch um einen scheiternder Romantizismus. Die Natur ist ein wenig der giftige Apfel. Die Figuren wollen raus, mal entspannen, weg von dem Leben, das sie führen, nehmen sich allerdings selbst dabei mit. Die Natur ist eigentlich nur ein falsches Versprechen, das sie sich selber machen. Die Natur, auf die sie treffen, ist nicht die Natur, die sie erwartet haben. Sie behandeln sie völlig respektlos und bekommen von ihr das zurück, was sie ihr entgegenbringen. Die eigentliche Katastrophe hat jedoch nichts mit der Natur zu tun, die tragen die Figuren bereits in sich und bringen sie mit. Es ist für mich fast eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Was projizieren die Figuren in die Natur hinein?
In dem Film „Fight Club“ von David Fincher wird das sehr gut beschrieben, wenn Edward Norton davon spricht, dass er ein portioniertes Leben führt und portionierte Freunde hat. D.h., man funktioniert unheimlich gut, nicht nur beruflich, sondern auch privat. Diese große Entgrenzung, der dionysische Gedanke kann gar nicht stattfinden. Man kann das nicht in aller Konsequenz machen, sondern allerhöchstens mal einen Abend lang. Darum geht es den Figuren. Sie wollen sich einen Abend lang betrinken, vollfressen und entspannen.
Am Ende des Stücks kehren die Überlebenden wieder in die Stadt zurück, aus den Paaren sind Einzelgänger geworden, es wird über Anrufbeantworter kommuniziert. Ist das der Zerfall von Sozialität, von Gesellschaft?
Ja. Aber dieser Zerfall hat schon viel früher eingesetzt. Das ist das, was der Erzähler am Beginn sagt, wenn er zunächst den Wald und dann die Menschen beschreibt: „Man könnte sagen, sie sind Freunde“. Sie bemühen sich darum. Der große Gedanke, der mit dem Zitat und der Erwähnung von Thoreau im Stück angesprochen wird, liegt darin, dass es mal jemanden gab, der diese große Hoffnung gehabt und sie auch eine Zeitlang verwirklicht hat. Trotzdem klappt es nicht, weil man sich für eines entscheiden muss. Man muss dann da bleiben und kann nicht wieder zurück.
Ist das Stück moralisch?
Die Figuren haben eine Moral, die allerdings je nach Figur unterschiedlich ist. Und das könnte vielleicht die Moral des Stückes sein. Also aufzuzeigen, dass das Fehlen einer gemeinsamen Moral ein großes Problem ist. Insofern ist das Stück auch eine Kritik urbaner Zivilisation. Das Stück ist moralisch in seinem Verlangen nach einer Moral, aber nicht im Sinn eines erhobenen Zeigefingers wie im Märchen.
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