Was für ein Bild! Walker Evans’ Schwarzweiß-Fotografie „Mary Frank’s Bedroom, NYC 1959“ zeigt ein privates Zimmer auf eine Weise, die das Gesehene durchleuchtet und doch auf respektvollem Abstand bleibt. Eine Frau sitzt abgewandt auf einem Stuhl und kehrt uns ihr offenes Haar zu. Der Raumausschnitt wirkt merkwürdig leer. Auf dem Boden steht eine Glasschale mit umgekippten Kerzen. Über dem Kopf hängt ein Blumentopf, weitere Blumen befinden sich seitlich und umkränzen so die Frau im Schlafzimmer, dessen Bett aber ausgeblendet ist. Ist die Szene arrangiert oder so gefunden? Walker Evans, der als junger Mann literarische Ambitionen hatte, sprach bei seinen Fotografien von „lyrischer Dokumentation“ – hier schafft er eine Szene voller Poesie, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Das macht diese sorgsam komponierten fotografischen Bilder von Evans so reizvoll – hinzu kommt noch, dass sie Dokumente einer bestimmten Zeit sind und etwas über das Leben in dieser mitteilen. Sie blicken hinter die Oberfläche und weisen auf tiefere Zusammenhänge.
Das Bild von Mary Frank, der ersten Ehefrau des Fotografenkollegen Robert Frank, gehört zu einer Folge von Menschenbildern und Interieurs, die Walker Evans über etliche Jahre hinweg verfolgt hat und die nun innerhalb der Retrospektive in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur ausgestellt sind. Seine Fotografie ist ein Registrieren und Sammeln, zugleich Ordnen. Daraus sind Bildserien entstanden. Die Porträts und die dunklen, mittels offener Türen als Raumfluchten gegebenen Zimmer sind in ihrer theatralischen Dramaturgie für seine Fotografie allerdings ungewöhnlich. Vielmehr ist Walker Evans ein Meister des Unauffälligen, ein reiner Beobachter dessen, was sowieso und unverrückbar vor einem liegt, mit einem feinen Gespür für das Detail. Da sind die Sachaufnahmen, die genau im Bildformat arrangiert sind, etwa die Gladiolen (1929) und die Afro-Negro-Art (1935), welche Walker Evans im Auftrag des Museum of Modern Art fotografisch dokumentiert hat. Da sind aber auch, entdeckt im Stadtbild, die Einfamilienhäuser mit ihren Fassaden, dann die Street Photography oder die Porträts von Fahrgästen der U-Bahn in New York. Seine Fotografie ist in ihren besten Momenten gesellschaftskritisch. Berühmt sind seine Aufnahmen der verarmten Landarbeiter im Süden der USA. In seinen letzten Lebensjahren hat sich Walker Evans noch der farbigen Polaroid-Fotografie zugewandt: Man solle sich das aber erst im Alter aneignen, schrieb Evans, nachdem man lange genug konventionell fotografiert habe.
Beschreibend und kritisch
Walker Evans wurde 1903 in St. Louis geboren. Seine ersten Fotografien entstehen 1926 bei einem Aufenthalt in Paris. Anschließend lebt er in New York, wo er in die Kunstszene eintaucht. Er arbeitet als Fotojournalist, etwa für das Wirtschaftsmagazin „Fortune“, für das er auch Reportagen über soziale Notstände anfertigt. Schon seine journalistischen Aufnahmen finden große Beachtung, fließen in Bücher ein und führen selbst zu Publikationen, wie etwa bei seiner Serie über viktorianische Häuser (1931). 1947 wird eine Retrospektive seiner Fotografien im Art Institute of Chicago gezeigt; ab 1964 lehrt er als Professor an der Yale University. Im Museum of Modern Art in New York werden über die Jahrzehnte hinweg einzelne Werkgruppen gezeigt, dies mündet dort 1971 in eine große Retrospektive, die auf Tour geht. 1975 ist Walker Evans in New Haven gestorben, hoch angesehen als ein Fotokünstler des Indirekten, der mit seinen Aufnahmen etwa für die Jahre der wirtschaftlichen Depression sensibilisiert hat. Er verdichtet geschichtsträchtige Momente, und auch wenn seine Fotografien nüchtern scheinen, so behält man sie doch lange im Gedächtnis. Plakativ wirkt natürlich die Aufnahme mit einem Haus, auf dem in riesigen Ziffern die Nummer geschrieben steht. Das ist zunächst die humorvolle Beobachtung einer originellen Lösung. Aber so wie Walker Evans es festhält, verweist er noch auf Fragen der städtischen Verfasstheit.
Einen guten Zugang zur Perspektive, mit der Walker Evans seine Umwelt erfasst hat, liefert in der Kölner Ausstellung die Videostation seiner „Travel Notes“, einem 35mm-Film von 1935, den Evans auf einer Schiffsreise nach Tahiti gedreht hat. Lakonisch und puristisch wirkt es, wenn er durch die Takelage des Schiffes den Himmel filmt, die Bewegung der Blätter im Wind erfasst oder auf dem fahrenden Schiff die Kamera auf den Uferstreifen hält: Er lässt sich auf das Tempo seiner Umgebung ein, beschleunigt nichts, aber wählt aus und fokussiert. Er filmt auch den Kapitän und die Matrosen wie für bestellte Porträt-Aufnahmen und löst selbst das im Rahmen seiner Bildsprache. Und er dokumentiert die Einheimischen beim rituellen Tanz. Daraus ergibt sich die Geschichte einer Reise, leichthin und so, dass man den Kameramann vergisst. Das ist nun auch die Stärke der Fotografie von Walker Evans: Sie nimmt sich zurück, alles ist so selbstverständlich und dann wieder so außergewöhnlich. Ein bedeutender Fotograf, der in Köln mit seinem ganzen Werk vorgestellt wird.
„Walker Evans – Decade by Decade“ | bis 20.1. | Photographische Sammlung der SK Stiftung Kultur im Mediapark | www.photographie-sk-kultur.de
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