choices: Wie haucht man abgenudelten Weill-Hits wie Pollys Song von der Seeräuberjenny oder Mackie Messers „Und der Haifisch …“ neues Leben ein?
Hans-Jörn Brandenburg: Sachiko Hara-Franke spielt bei uns die Figur der Polly. Sie tritt mit einem Tablett auf wie eine asiatische Tänzerin in einer Karaoke-Bar in Bangkok und singt den Song, um von den deutschen Touristen Geld zu bekommen. Das ist die hohe Schule der Bettelkunst, so lautet unser Stichwort dazu. Es kommt also auf die szenische Situation an, in der das Lied gesungen wird.
Und die musikalische Interpretation?
Bei der musikalischen Interpretation kann man entscheiden, inwieweit man die Songs singen oder eher sprechen lässt. Brecht wollte, dass die Darsteller sich nicht von den schönen Melodien verführen lassen, sondern gegen die Musik sprechen. Beim Parlando singt man mit halber Stimme und folgt in einem Sprachgestus der Melodie. Dieses Stilmittel, das in den 20er Jahren in Revuen und Couplets von einer Sängerin wie Blandine Ebinger gepflegt wurde, ist heute etwas verloren gegangen. Wir setzen das in unserer Inszenierung beispielsweise im „Anstatt-dass“-Song von Peachum an der Stelle „Anstatt dass sie zu Hause bleiben und in dem warmen Bett“ ein. Das bekommt dadurch eine andere Schärfe. Man muss für jeden Darsteller den Schlüssel finden, wie er das auf eigenständige Art machen kann. Deshalb wird die Kölner Inszenierung kein Remake der „Dreigroschenoper“ werden, die wir 2002 in Hannover herausgebracht haben.
Wie viel Einfluss haben die Darsteller dabei?
Die Schauspieler sollen das Bewusstsein entwickeln, dass sie auch der Dirigent der Band sind. Sie können mit ihrem Atem Einsätze geben, mit ihrer Art zu singen, das Tempo der Musik bestimmen. Oft haben Schauspieler Angst, überhaupt zu singen. Wenn man die Songs zu starr einstudiert, wird es dann schnell langweilig. Wenn die Darsteller aber merken, sie können damit frei arbeiten, dann wird daraus Musik.
Können Sie auch am musikalischen Material zum Beispiel bei der Instrumentation etwas ändern?
Eigentlich kaum. Die Auflagen der Weill-Foundation, also der Erben von Kurt Weill, sind sehr streng. An den Theatern wird die Jenny oft eine Oktave tiefer gesungen, weil sie für die meisten Schauspielerinnen zu hoch liegt. Aber eigentlich darf man noch nicht einmal die Stimmlage ändern. Als ich die „Dreigroschenoper“ mit Robert Wilson am Berliner Ensemble, also am Uraufführungstheater, einstudiert habe, mussten wir es original machen. Deshalb quälte sich die Sängerin in dieser hohen Stimmlage herum. In Nicolas Stemanns Inszenierung haben wir nur die Reihenfolge der Songs manchmal verändert.
Wenn Sie Robert Wilsons und Nicolas Stemanns „Dreigroschenoper“ vergleichen, wo liegen die Unterschiede im Einsatz der Musik?
Wilson braucht die Musik, um Leben und Dreck in seine Inszenierungen zu bekommen. Die Unschärfe der Musik muss seine feine Ästhetik etwas vermenschlichen bzw. eine statistische Unregelmäßigkeit hineinbringen, sonst wird es langweilig. Bei Nicolas Stemann ist es umgekehrt. Wir lassen den Urtext von Brecht über ein Laufband wie in einer Karaoke-Bar mitlaufen. Das Laufband gibt die Freiheit, in der Inszenierung das Stück aufzubrechen. Auf der Szene können dann ganz andere Sachen passieren, Darsteller können zum Beispiel andere Rollen übernehmen. Andererseits bedeutete das auch, dass wir bei der Musik auf Nummer sicher gehen. Sonst würde uns das, auch wegen der Erben, um die Ohren fliegen.
Bei Brecht/Weill werden die Songs deutlich aus dem Kontext des Plots herausgehoben. Bei Ihnen, Sie nannten das Beispiel Polly in der Karaoke-Bar, scheint das anders zu sein.
Bei uns sind die Songs mehr in die Inszenierung eingebettet. Doch auch wir lassen sie ankündigen. Während bei Brecht große Tafeln hochgehalten wurden, werden bei uns die Songs angesagt, manchmal sogar mit dem Megaphon.
Sie haben Brechts/Weills „Dreigroschenoper“ musikalisch betreut, haben aber auch Tom Waits-Musicals einstudiert oder mit der Band „The Tiger Lillies“ gearbeitet. Gibt es da eine Traditionslinie?
Ja, das ist eine Linie. Tom Waits hat noch vor seinem Musical „Black Rider“ sich in „Lost in the Stars“ mit der Musik von Kurt Weill beschäftigt. Es gibt bei ihm viele Stücke, in denen die Dur-tonale Musik mit Dissonanzen angeschärft wird. Bei ihm entsteht das aus seiner kruden Spielweise heraus, da ist bei einer D-Dur-Melodie immer noch irgendeine schwarze Taste dabei. Bei Weill werden klare Dur- oder Moll-Stellen zwar auch bewusst umgangen und mit Dissonanzen versehen, aber hier ist das exakt auskomponiert. Tom Waits hat von diesem Verfahren, eine Klarheit in der Musik durch Dreck oder Dissonanzen anzuschärfen, viel übernommen.
Gibt es denn eine Tradition des Musiktheaters im Schauspiel?
Vor zwanzig Jahren habe ich bei der Hamburger Produktion von „The Black Rider“ mitgearbeitet. Danach wurde das Stück von 120 Theatern nachgespielt. Damals schien eine neue Phase des Musiktheaters am Schauspiel zu beginnen. Davor wurde immer „Die Dreigroschenoper“ oder „Little Shop of Horror“ gespielt, um Quote zu machen. Doch jetzt spielen wir wieder die „Dreigroschenoper“, das ist das Schlimme. Es gibt bis heute keine originären Nachfolger dieser Art Musiktheater auf der Sprechbühne wie „Black Rider“. Was es gibt, sind Songabende von Wittenbrink, Gedeon oder Sienknecht, die Lieder mit ein bisschen Comedy mischen. Aber dazwischen ist nichts. Trotz der zahlreichen jungen Autoren, die inzwischen von den Studiengängen für szenisches Schreiben ausgespuckt werden. Ich kenne keinen, der sich ernsthaft mit Musik beschäftigt.
„Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht/Kurt Weill I R: Nicolas Stemann I Musikalische Einstudierung: Hans-Jörn Brandenburg Schauspielhaus, 27. (P), 28.3., 19.30 Uhr
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