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„Nur Utopien sind noch realistisch“
Foto: Pramudiya

„Die Utopie in kleinen Schritten“

31. August 2017

Das Analogtheater behauptet „Nur Utopien sind noch realistisch“ – Premiere 09/17

Seit 1989 haben angeblich die Utopien abgedankt – obwohl sie schon zuvor weitgehend desavouiert waren. Mit dem damals verkündeten Ende der Geschichte sollte die Erfüllung im kapitalistisch-demokratischen Hier und Jetzt vollzogen werden. Doch die Bilanz könnte beängstigender nicht sein: Von der Klimakatastrophe bis zu Kriegen. Was diese Angst anrichtet, das hat das Analogtheater in seiner letzten Produktion bereits erkundet. Jetzt widmet sich die Gruppe in ihrem neuen Stück „Nur Utopien sind noch realistisch“ möglichen Veränderungen. Es muss ja nicht gleich die Revolution sein. Ein Gespräch mit Regisseur Daniel Schüßler.

choices: Herr Schüßler, was ist realistisch an einer Utopie?
Daniel Schüßler: Das neue Stück ist eine Antwort auf unser letztes Stück „German Ängst“, in dem es um das Nichts-Tun angesichts der Angst ging. Wir können die Katastrophe ziemlich genau voraussagen, die in zehn Jahren eintritt, wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel tun. Wir wissen also, wie die Dystopie aussieht. Den Weg in die Eutopie, also die positive Utopie kennen wir dagegen eigentlich nicht. Der Titel unseres Stücks geht auf einen Satz von Oskar Negt zurück. Er meint, dass wir überhaupt etwas tun müssen, um die Welt zum Positiven zu gestalten. Es geht also um die Handlungsfähigkeit. Wir beschäftigen uns im Stück viel mehr mit dem, was wir tun können als mit der Utopie. Im Laufe der Proben haben wir uns auf die Person Rosi fokussiert, auch um das Thema nicht zu groß werden zu lassen.

Wer ist Rosi?
Das Stück sollte ursprünglich aus unterschiedlichen Utopieentwürfen zusammengesetzt werden, einer Art Collage aus Ideen einer besseren Welt. Dann haben wir Rosie testinterviewt und festgestellt, dass das unsere Story ist. Rosi ist eine seh- und gehbehinderte, 68-jährige Frau aus Düsseldorf. Mit 58 ist sie an den finnischen Polarkreis gezogen. Nach zwei Jahren kam sie zurück, und seitdem ist da dieser Traum von einer anderen Welt. Das hat uns tief berührt. Es geht aber gar nicht um eine andere Welt, sondern wie man sich hier sein Utopia bauen kann, wenn man zu alt und zu krank ist und zu wenig Geld hat, um da wieder hinzufahren.

War Finnland schon immer Rosis Utopie?

Daniel Schüßler
Foto: Dorothea Förtsch
​ Zur Person:

Daniel Schüßler gründete 2004 das Analogtheater, dessen Regisseur und künstlerischer Leiter er seither ist. Er studierte Schauspiel am Kölner Zentrum für Schauspiel und arbeitete am Nationaltheater Mannheim, dem Theater Bonn oder den Bühnen Köln. Mit „wohnen. unter glas“ von Ewald Palmetshofer gewann Schüßler den „Preis der Jury“ bei den Heidelberger Theatertagen. Seit 2011 ist er auch Schauspieldozent an der Theaterakademie Köln.

Nein, zur Utopie ist es erst geworden, als sie zurückkam. Sie würde das nicht mit so großen Worten bezeichnen. Sie fliegt allerdings mit Google Earth über Finnland, träumt von einem Haus dort, skypt mit ihren Freunden in Finnland, die Wohnung ist vollgestellt mit Elchen. Finnland ist ein großes Thema, weil die Realität ihr nicht genügt. Finnland steht für ein besseres Leben.

Wie kann sie sich ihre Leben hier zu einer erfüllten Utopie umbauen?
Das berührt die Frage der Handlungsfähigkeit, mit der wir uns beschäftigen. Im Stück wollen wir das Finnland hier in der Studiobühne errichten: den Polarkreis, das Nordlicht. Das könnte dann vielleicht auch heißen, sein Leben hier so umzugestalten, dass man glücklicher ist als bisher.

Ist eine private Utopie nicht leichter zu realisieren als eine gesellschaftliche?
Es ist vielleicht einfacher, weil man erst mal nur mit sich selber beschäftigt ist und die anderen einem nicht reinfunken. Bei einer gesellschaftlichen Umwälzung gibt es einfach sehr viele Meinungen. Doch auch auf dem privaten Weg liegen viele Hindernisse. Rosis Gehbehinderung wird nicht mehr weggehen, das Augenlicht nicht zurückkommen. Deshalb hat der Abend auch eine traurige Komponente. Wir versuchen das umzudeuten. Am Ende wird es kein Lösungsangebot für alle geben, aber ein Lösungsangebot für Rosi.

Für Oskar Negt funktioniert Utopie nur als Zusammenwirken von eigener Lebenswelt und Gemeinwohl der Gesellschaft. Was an Rosis Utopie könnte trotzdem das Gemeinwohl befördern?
Rosi hatte ein sehr schwieriges Leben. Trotzdem hat sie mit 58, halbblind, ohne Englisch oder Finnisch zu können, beschlossen, nach Finnland zu gehen. Das ist schon ziemlich respektabel. Ich weiß nicht, ob ich mich das trauen würde. Unsere Hoffnung ist, dass der Zuschauer das auf sein eigenes Leben oder die Gesellschaft überträgt: Wenn Rosi das kann, dann kann ich das auch schaffen. Wir wollten die Utopie bewusst auf Rosis kleine Schritte herunterbrechen. Aus diesen kleinen Schritten können wir lernen. Wie kann man Gedanken stofflich werden lassen? Da mögen einfache Botschaften und Lösungen rauskommen, aber wir können lernen, dass man irgendwo beginnen muss.

Es geht also gar nicht nur um den großen gesellschaftlichen Entwurf, sondern eine Erweiterung des Utopiespektrums.
Im Privaten sind das eher Träume, in der Gesellschaft sind es Utopien. Es geht darum, wie kann man überhaupt handlungsfähig werden. Ich hätte mir nicht zugetraut ein Stück zu machen, das Lösungsangebote für große gesellschaftliche Utopien beinhaltet. Das können andere besser. Wir können im Theater vor allem persönliche Geschichte erzählen. Die Transferleistung muss dann der Zuschauer vollziehen.

Ist das nicht etwas bequem, das Gesellschaftliche dem Zuschauer zu überlassen?
Es wäre vermessen zu sagen, ich habe die Lösung. Wir müssen etwas tun, um uns gegen den Rechtspopulismus zu wehren, der in Europa aufblüht. Wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun. Wir müssen etwas für den Tierschutz tun. Da bin ich auch privat engagiert. Das ist ein kleiner Schritt, der die Gesellschaft schon verändert, wenn auch erst mal nur im Kleinen. Aber das ist, was wir aus dem Stück ziehen können. Rosi hat einen wichtigen Satz in der Vorbereitung gesagt: Aufstehen, Gleichgewicht finden, Mut fassen, losgehen. Darin steckt auch eine gesellschaftliche Botschaft, ohne gleich ein vermessenes Lösungsangebot anzubieten.

Utopie sollte also konkret sein und nicht diffus. Wenn man aufsteht, muss man wissen, wohin man geht?
In dem Fall ist es Finnland. Nur: Der Ort, den sie sich dann kreieren wird, ist ein fiktives Finnland, weil sie keine andere Möglichkeit hat. Die großen utopischen Themen kommen trotzdem darin vor: Wie wollen wir im Alter leben? Wie geht Gesellschaft mit Geld um? Ist Unsterblichkeit erstrebenswert? Die großen Themen lassen sich also im Kleinen entdecken. Das Private ist dann vielleicht doch politisch, wie die 68er meinten.

Brauchen wir in der Gesellschaft vielleicht mehr kleine Experimentierfelder, anstatt gleich den großen Wurf zu wagen. Zum Beispiel Testgruppen für das bedingungslose Grundeinkommen. Oder für experimentelle Wohnformen im Alter.
Damit erweitert man den Horizont und merkt, ob etwas funktioniert. Es ist wichtig, dass man das große Ganze nicht aus den Augen verliert, aber im Kleinen ausprobiert, wie man dem großen Ziel näherkommt. Wenn diese Blasen sich zu größeren Schäumen zusammensetzen, dann ist schon viel geschafft. Eine gesellschaftliche Lähmung kommt nicht nur aus Desinteresse, sie kommt auch aus der Fülle an Information und Möglichkeiten. Die Utopie kann einen auch lähmen.

„Nur Utopien sind noch realistisch“ | R: Daniel Schüßler | 6.-10.9. 20 Uhr | Studiobühne Köln | 0221 470 45 13

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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