Manche Bücher sind wie gute Freunde. Die liest man nicht – die hat man. Zwar weiß jeder, dass bei Miguel de Cervantes dem Landadeligen Alonso Quijano von der Lektüre zahlloser Ritterromane das Hirn vertrocknete, er sich schließlich selbst zum Romanhelden „Don Quijote“ ausrief und Windmühlen bekämpfte, doch wagt kaum noch jemand zu fragen, was die Realitätsverweigerung und Flucht in die Fiktion dem Leser oder Theaterbesucher heute noch sagen könnte.
So wussten viele der Besucher, die sich für die Premiere von Kieran Joels Adaption des Stoffes im Bauturm einfanden, zwar, dass Klassikerkost auf dem Programm stand, ahnten allerdings nicht, wie sich Joel dem Stoff zu nähern gedachte, der derzeit auch am Theater Bonn gespielt wird. Statt den Ritter von der traurigen Gestalt lediglich als ulkigen Träumer zu denunzieren, widmete er sich dem Roman als Blaupause postmoderner Literatur, dessen Autor schon lange bevor metafiktionale Lesbarkeit in Mode kam, Gefallen daran fand das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität in den Mittelpunkt zu stellen. Schließlich hatte Cervantes' Antiheld schon 1605 seine Not, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden, nahm die Geschichten der zeitgenössischen Ritterromane für bare Münze und glaubte schließlich selbst, ein Romanheld zu sein... womit er trotz seines Irrtums in seiner fiktionalen Welt recht behielt.
Statt den närrischen Versuch zu unternehmen, den Plot eines 400 Jahre alten Romanzweiteilers von über 1200 Seiten auf übersichtliche 90 Minuten zu dämpfen, nahm Joel sich vor, Cervantes' Text als postmoderne Pionierarbeit zu updaten. Sein Theater-Quijote ist sich seines fiktiven Daseins als Roman- und Bühnenfigur bewusst und weiß, dass sein Drama schon unzählige Male gespielt wurde. Der Fiktionsvertrag, der für Cervantes' Romanheld einst so schwer einzuhalten war, ist dem 2017er-Quijote, den Felix Witzlau im manischen Kinski-Modus darbietet, zwar ein Begriff, doch mittlerweile völlig egal. So hat der Quijote, wie Witzlau ihn gibt, kein Interesse daran, seine Geschichte ein weiteres Mal zum Besten zu geben. Nicht nur durchbricht er frei von jeder Motivation oder Plot (den es nicht gibt) bei jeder Gelegenheit die vierte Wand, schreitet durchs Publikum, um Smalltalk zu halten, spricht sich mit seinem getreuen Knappen Sancho Panza alias Maximilian Hildebrandt gern mit realen Namen an oder stimmt mit ihm spontan ein Duett des Disney-Songs „A Whole New World“ an. Wenn es sein muss, tauschen sie ohne größere Ankündigung sogar komplett die Rollen.
Als wäre damit nicht genug mit den guten Sitten des Erzähltheaters gebrochen, schaltet sich immer wieder auch Regisseur Joel über ein Voice-Over ins Geschehen ein, resümiert die völlige Konzeptlosigkeit des Gezeigten und erweitert das Geschehen um eine weitere Realitätsebene, wenn er immer wieder beschwört, das Stück basiere auf „wahren Proben“. Ob man ihm glauben soll und es sich hier wirklich nur um die Summe komplett verbaselter Probenarbeit handelt, oder der Wahnsinn Methode hat, bleibt ein Geheimnis. Die Weigerung, dem Stoff auf konventionellen Wegen beizukommen und dem Publikum unverfängliche Unterhaltung zu bieten, ist unübersehbar. So gab sich das Trio die größte Mühe, ein Meisterwerk der Literatur vom Sockel des Unantastbaren zu reißen und einem auf „Literatur meets Theater“-Entertainment eingestellten Publikum gepflegt den Abend zu verderben. Warum auch nicht: Wann immer eine Bühne aufhört eine Komfortzone zu sein, hat sich der Aufwand in der Regel gelohnt.
Leichter geplant als umgesetzt, wie sich bald zeigte. Das Publikum am letzten Donnerstag zeigte der Provokationslust des aus Berlin (Joel und Hildebrandt) und Dresden (Witzlau) stammenden Dreigestirns die Grenzen auf. So scheiterte eine Produktion, die auf den offenen Bruch mit den Betrachtern angelegt war, an der bräsigen Jemötlichkeit des Kölner Theaterpublikums, das einfach jede Stichelei unter Applaus begräbt. Zwar zeigten vereinzelte Besucher Nerven und verließen erbost murmeld den Saal, doch war ein Großteil nicht davon abzubringen, auch die offenste Provokation als Jux und Dollerei anzunehmen. Selbst als Kölsche Mentalität mit dem lustlosen Anstimmen von „Op dem Maat“ offenem Hohns preisgegeben wurde, zeigte sich das Publikum immun gegen jede Form der Subversion und klatschte beseelt mit. Ein Hauch von Karneval machte sich breit und es wurde klar, dass Giftpfeile hier verschwendet waren.
Wo der wirre Edelmann Quijote damals die Windmühlen als Symbol technischen Fortschritts und damit einhergehendem Niedergang des Landadels aufs Korn nahm und sowohl praktisch wie metaphorisch scheitern musste, wendet sich sein postmoderner Namensvetter dieser Tage gegen ein Publikum, das vom Theater wohlfeile nicht mehr als Unterhaltung erwartet. Auch er muss scheitern. Gegen die Kölner Bereitschaft, im Theater auf Teufel kaum raus eine lustige Zeit zu haben, ist wahrhaft kein Kraut gewachsen. Wenn es sie nicht gebe, müsste ein Theaterfeind sie erfinden.
„Don Quijote“ | R: Kieran Joel | 20.12., 21.12., 22.1., 23.1. je 20 Uhr, 3., 21.1. 18 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
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