Anna Seghers‘ Roman „Transit“, entstanden 1941/42 im Exil in Mexiko, ist einer der Ikonen der Flüchtlingsliteratur. Der namenlose Ich-Erzähler flieht aus einem Arbeitslager zunächst nach Paris. Dort nimmt er die Identität des verstorbenen Schriftstellers Weidel an und reist weiter nach Marseille, wo er auf Weidels Ehefrau Marie trifft, die nichts vom Tod ihres Mannes weiß. Seghers Roman kommt in einer Inszenierung von Heinz Simon Keller am Theater der Keller auf die Bühne.
choices: Herr Mittelstädt, was hat Sie als Videokünstler an „Transit“ interessiert?
Egbert Mittelstädt: Da ist zunächst eine ganz direkte Verbindung über den Titel. Das Wort „Transit“ beschreibt für mich ein Übergangsstadium, einen Zwischenraum. Ich mache seit vielen Jahren Panorama-Fotografie im öffentlichen Raum, und im ganz Speziellen interessiert mich Bewegung im öffentlichen Raum. Ich habe immer wieder in Bahnhöfen und U-Bahnen fotografiert und dabei gerade Menschen beobachtet, die sich in diesem Zwischenraum befinden. Es gab also erst mal so eine ganz direkte Verbindung mit diesem Wort „Transit“. Und nimmt man dann den Inhalt des Romans von Anna Seghers dazu, dann ist die Verbindung nicht schwer herzustellen. Anna Seghers beschreibt Menschen, die sich auch in einem Zwischenraum, dem Zwischenraum einer Flucht befinden, und sie beschreibt, was es heißt, sich zwischen zwei Welten zu befinden.
Wie gehen Sie damit um?
„Transit“ spielt bei uns im historischen Rahmen des Buches, also 1943 in Paris und Marseille. Eine Bebilderung mit Panoramen aus Marseille oder der historischen Zeit hat uns allerdings nicht interessiert. Wir haben uns dafür entschieden, dass ich im heutigen Köln fotografiere, so dass es zwei Welten mit unterschiedlichen Bedrohungen auf der Bühne zu sehen gibt. Im Spiel der Schauspieler ist es die Bedrohung durch die Deutschen und die Notwendigkeit auszuwandern. Und in der Bildwelt ist es ganz aktuell der Virus, der uns in Angst und Schrecken versetzt. Und auch da befinden wir uns in einem Zwischenraum, der eine Veränderung mit sich bringt, ohne dass wir wissen, wo es hingeht.
Das erinnert an den Film von Christian Petzold, der seine Verfilmung im heutigen Marseille spielen ließ?
Er hat die Geschichte im heutigen Marseille verortet und mehr oder weniger unbestimmt gelassen, woher die Gefahr kommt. Das ist ein richtiger Schritt gewesen. Wir setzen noch einen obendrauf und sagen, das muss auch gar nicht Marseille sein. Es ist wichtig, dass diese Bedrohung einerseits überall stattfinden kann, also auch hier in Köln, und andererseits, dass diese Bedrohung als Synonym steht für andere Bedrohungen.
Was genau zeigen Sie auf den Panoramen?
Die Panoramen werden aktuell fotografiert. Das heißt, da gibt es Menschen mit Masken zu sehen, es gibt leergefegte Plätze wie den Bahnhofsvorplatz, es gibt menschenleere Bahnsteige in der Hauptreisezeit, auf denen sich niemand aufhält. Oder ein Bild vom Containerterminal im Niehler Hafen, wo absoluter Stillstand herrscht. Da passiert nichts. Jetzt läuft es langsam wieder an, aber die Situation ist außergewöhnlich.
Sie haben ihr Interesse an der Bewegung von Menschen im öffentlichen Raum erwähnt. Wie bewegen sich Menschen im öffentlichen Raum?
Wenn man im öffentlichen Raum fotografiert, dann entwickelt man einen Blick: Mit welcher Intensität sich Menschen bewegen. Aus welchem Grund sich Menschen bewegen. Letztlich ist jedes Bild, das man im öffentlichen Raum macht, eine kleine Geschichte des Menschen und seiner Bewegungsintention. Man kann deutlich erkennen, ob jemand zur Arbeit geht, ob er Party machen möchte oder ob er an einem Platz installiert ist. Außerdem ist die Kamera selbst beim Fotografieren auch in Bewegung. Sie dreht sich um 360 Grad. Ich habe mir im Laufe der Jahre angewöhnt, nicht mehr hinter der Kamera zu stehen, sondern mich von der Kamera wegzubewegen und sie als Satelliten im Raum ihre Arbeit machen zu lassen.
Wie bewegen sich Flüchtlinge im öffentlichen Raum?
Flüchtlinge haben natürlich eine ganz bestimmte Art, den Raum zu betreten. Sie sind viel, viel vorsichtiger. Man spürt es schon alleine am Tempo. Das ist etwas völlig anderes, als wenn ich den Raum durchschreite und sage, ich muss jetzt noch schnell zur Probe. Zeit ist überhaupt ein wichtiges Thema. Es gibt Menschen, die haben viel Zeit in einem Raum, und es gibt andere, die gar keine Zeit haben, die versuchen, den Raum sehr schnell zu durchqueren.
Nochmal zurück zu den Panoramen: Stehen diese Panoramen quasi dann als Hintergrund auf der Bühne?
Es war ein lang gehegter Wunsch von mir, mittels Panoramen auf der Bühne fast filmisch zu arbeiten. Es geht also nicht so sehr um ein Bühnenbild, sondern eher um einen Bildraum, der zu einem weiteren Akteur wird. Die Bilder lassen sich live verändern: Wir können in den Bildern wandern, mit dem Zoom den Fokus auf bestimmte Dinge lenken, wir können filmische Verfahren wie Schuss-Gegenschuss benutzen. Wir können aber auch den Raum zusammenstürzen lassen oder das Bild auf dem Kopf stehen lassen. Das sind Möglichkeiten, die sich mit den hochauflösenden Panoramen ergeben. Auf diese Art und Weise ist das noch nicht gemacht worden. Das ist auch Neuland für mich, obwohl ich schon mit Panoramen auf Bühnen gearbeitet habe.
Wie viel Platz nehmen die Panoramen ein?
Das ist eine große Projektion vom Boden bis zur Decke, also zwölf Meter breit und sechs Meter hoch. Ansonsten ist die Bühne mehr oder weniger leer. Die Schauspieler agieren vor diesem großen Bild. Es geht aber nicht darum, dass damit eine Illusion geschaffen wird. Wir schaffen an vielen Stellen bewusst auch eine Distanz zwischen dem, was auf der Bühne passiert, und dem, was im Bild passiert. Es geht nicht darum, die Menschen in diese Bilder reinzuprojizieren.
Wenn ich mir Schauspieler vor einer solchen Bildwand vorstelle, verschwinden die dann nicht angesichts der Übermacht des Bildes, das sich zudem auch noch bewegt?
Wir haben einige Proben gemacht und die Bilder sind gar nicht so dominant. Die Schauspieler spielen näher am Publikum. Zudem ist unsere Projektion eine Aufprojektion, die Darsteller werfen also Schatten auf der Leinwand. Und das Licht der Bühne lässt die Projektion zudem weniger kontrastreich erscheinen. Und schließlich arbeiten wir zwar mit hyperrealistischen Dokumentaraufnahmen, aber sie sind alle in Schwarzweiß gehalten, dadurch wirken sie zusätzlich stilisiert. Insofern ist es eher ein untergeordnetes Verhältnis der Bilder.
Transit | R: Heinz Simon Keller | 4.(P), 5., 11., 19.9. 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
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