Mit Harald Naegeli stellt das Museum Schnütgen erstmals seit langem einen zeitgenössischen Künstler vor und mehr denn je erhellt sich die Bedeutung der Sammlung zur christlich und liturgisch geprägten Kunst vergangener Jahrhunderte. Seit 1956 in der romanischen Kirche St. Cäcilien untergebracht, handelt es sich bei diesem Museum um eine Schatz- und buchstäblich Wunderkammer. In der Architektur des Kirchenschiffs mit dem hohen Raum reflektiert es die spirituelle Tiefe der Kunst und Kultur und verdeutlicht ihre Gegenwart im alltäglichen und städtischen Leben.
Harald Naegeli, der 1939 geborene Street Art-Künstler, der mit hunderten illegalen Graffitis in seiner Heimatstadt Zürich Ende der 1970er Jahre auf spektakuläre Weise verfolgt, verhaftet und bekannt wurde und sich seither als Zeichner etabliert hat, hat dem Schnütgen vor einiger Zeit ein Konvolut an Papierarbeiten geschenkt: Es bildet nun die Basis der Ausstellung, gemeinsam mit filmischen und fotografischen Dokumenten zum „Kölner Totentanz“. Gemeint sind die Graffiti von Totenköpfen, Skeletten, Wanzen, Fischen oder winzigen abstrakten Zeichen, die er 1980 und 1981 bei vier kürzeren Aufenthalten heimlich an Mauern, Säulen oder Tiefgaragen gesprayt hat. Eines der wenig erhaltenen befindet sich am zugemauerten Westportal der Cäcilienkirche – reichlich verblichen, später von Naegeli erneuert, von Vandalen übermalt, restauriert und konserviert: ein Skelett, das mit seinen ausgestreckten Armen das Portal einerseits versperrt und andererseits verdeutlicht, dass hier einmal ein Durchgang war, also zwischen Diesseits und Jenseits vermittelt.
Die Ausstellung vertieft weiter, was es mit diesem in schwarzen Linien knapp skizzierten Knochenmann auf sich hat. Sie präsentiert auf ihrem lockeren Parcours Naegelis Zeichnungen im Dialog mit der Sammlung, etwa einer Trauerdalmatik, auf der ein Totenschädel umgeben von Knochen gestickt ist (um 1730), oder einem offenen Miniatursarg mit einem Skelett aus Elfenbein und Ebenholz (um 1520) oder einer kolorierten Seite aus der Schedelschen Weltchronik (1493), die um die Endlichkeit des Lebens, aber auch die Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod, kreisen und mahnen, gottesfürchtig zu bleiben und die Gebote zu achten. Während die Sprayaktionen von Harald Naegeli in Zürich, Köln oder an seinem späteren Wohnsitz Düsseldorf oft konkrete politische und gesellschaftliche Anlässe hatten – der unmenschliche Beton der Funktionsbauten, die Umweltzerstörung, der Straßenverkehr, die Achtung der Natur – sind seine Zeichnungen allgemeiner gehalten. Sie führen zu zwei späteren umfassenden Werkgruppen: zur abstrakten „Urwolke“, bei der Naegeli große weiße Papierflächen mit winzigen, zarten Häkchen gefüllt und partiell verdichtet hat, so dass ein schwebender, nicht zu erfassender Meditationsraum entsteht, sowie zu einem hochformatigen Zyklus zur Apokalypse. Vor flüchtigen Splittern der „Urwolke“ sind Tiere, Blätter, Schädel und Skelette aus Naegeli's symbolischem Repertoire dicht gedrängt: ein mahnender Totentanz, der in Zeiten der Pandemie und des Krieges leider aktueller denn je ist.
Harald Naegeli in Köln – Sprayer und Zeichner | bis 12.6. | Museum Schnütgen | 0221 22 13 13 55
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