Der Funke des Arabischen Frühlings ging von zwei Jahren von Tunesien und den Protesten gegen Diktator Ben Ali aus. Inzwischen steckt das Land, das derzeit noch von der islamistischen Ennahda-Partei regiert wird, in einer tiefen Krise: wirtschaftlich, sozial, aber vor allem politisch. Im Februar ist der beliebte Oppositionspolitiker Chokri Belaid ermordet worden. Ein Anschlag, der zu schweren Massenprotesten führte. Im Juli verlor mit Mohamed Brahmi ein weiterer Oppositioneller sein Leben. Gleichzeitig bekämpfen radikale Islamisten und militante Salafisten alle Ansätze, einen zivilen Rechtsstaat durchzusetzen.
choices: Frau Bousselmi, wie lässt sich die gegenwärtige politische Situation in Tunesien beschreiben?
Meriam Bousselmi: Der revolutionäre Impuls ist erlahmt und droht in einem lautstarken Durcheinander zu verkümmern. Verantwortlich für diese trostlose Situation sind die Islamisten. Durch ihre Verblendung, ihre Inkompetenz und ihre Gewalt haben sie das Land komplett heruntergewirtschaftet. Die Ennahda Partei und ihr Führer Rachid Ghannouchi wollen in Tunesien einen terroristischen Staat unter dem Deckmantel der Demokratie errichten und dabei die Muslimische Bruderschaft zu einem transnationalen Verbund ausbauen.
Was bedeutet der Einfluss islamischer Gruppen für Ihre Arbeit als Regisseurin?
Ich konnte im vergangenen Jahr in Tunis nicht inszenieren. Dies wird vermutlich auch so bleiben, solange das islamistische Regime an der Macht ist. Ich weigere mich, unter einem Kulturminister zu arbeiten, der Künstler mit Aussagen wie „Kunst muss schön und nicht revolutionär sein“ oder „Kunst darf die Religion nicht kritisieren“ zu bevormunden versucht. Ich bin marginalisiert in meinem Land in einem doppelten Sinn: weil ich als antiislamische Radikale gelte, und weil ich eine Frau bin. Also versuche ich, mit Stücken wie „Sabra“, „What the Dictator did not say“ oder „The Sin of Success“, die politische Situation in Tunesien von außen zu kritisieren. Es ist effektiver, die Inszenierungen im Ausland zu produzieren und sie erst dann in Tunesien zu zeigen.
Worum geht es in Ihrem neuen Stück „The Sin of Success“, das Sie im Rahmen von „Globalize Cologne“ zeigen?
Da das Theater nicht die Welt verändern kann, müssen wir die Art, wie wir Theater machen, ändern. Mein Stück „The Sin of Success“ stellt die Frage, wie die Maschine Theater und die Maschine weiblicher Segregation funktionieren. Das Theater ist bekanntlich nicht weniger patriarchalisch als andere gesellschaftliche Bereiche. Der Abend wechselt ständig zwischen Fiktion, Kommentar der Fiktion und der Rekonstruktion autobiographischer Erfahrungen und analysiert das Rollenmodell der unterwürfigen Frau in der arabischen Gesellschaft und in Europa. Es geht um eine junge Künstlerin, die bei einem Festival für ihre Arbeit geehrt werden soll. Beim Festakt drängt sich ein männlicher Mitarbeiter ihres Teams vor und nimmt den Preis an ihrer Stelle entgegen. Künstlerinnen versuchen, ihren Protest gegen diese Marginalisierung in Form eines Stücks zu formulieren. Ihre Uneinigkeit über den Plot dieses Stücks ist insofern fruchtbar, weil sie Debatten über weiblichen Aktivismus, seine Mittel und seinen Erfolg in Gang setzt.
Sie arbeiten mit berühmten arabischen Schauspielerinnen. Inwieweit gehen deren biographische Erfahrung in das Stück ein?
Ich habe das Stück mit sechs Darstellerinnen aus verschiedenen arabischen Ländern besetzt: einer Ägypterin, eine Syrerin, einer Marokkanerin und drei Algerierinnen, die von einem Kabyle-Spieler begleitet werden. Es geht darum, das Echo des weiblichen Widerstands sichtbar zu machen. „The Sin of Success“ ist mehr als ein Theater-Projekt. Es ist ein Prozess des Nachdenkens über uns selbst, über unser Geschlecht und die Bedingungen des Erfolgs. Das Echo dieser Erinnerungsarbeit und der Analyse wird vor allem in den letzten beiden Szenen des Stücks anschaulich gemacht. Wir arbeiten darüber hinaus an einer Website, auf der wir unsere Erfahrungen veröffentlichen wollen. Die marokkanische Schauspielerin Amal Ayouch schreibt speziell dafür ein Tagebuch. Wir verstehen uns als Kern einer internationalen Gruppe, die auch in Zukunft weiter für die Rechte der Frauen und das bessere Verständnis der Geschlechter arbeitet.
Wie steht es derzeit um die Rechte der Frauen in Tunesien?
Tunesische Frauen haben mehr erreicht als die Frauen anderer arabischer Staaten. Aber einige dieser Errungenschaften wurden durch die Welle des Konservatismus und der Re-Islamisierung wieder zunichte gemacht. Aber wir werden kämpfen, auf der Straße, in der Partnerschaft, in Büchern, um den früheren Status wiederherzustellen.
Was verbindet arabische und europäische Länder, sobald es um erfolgreiche Frauen geht?
Sicherlich verfügen westliche Frauen über eine größere Freiheit, vor allem über größere sexuelle Freiheit. Es ist allerdings ein Klischee zu glauben, dass ein großer Unterschied zwischen europäischen und arabischen Ländern besteht. Die Unterdrückung funktioniert im Westen nur diskreter als in der arabischen Welt. In der Realität sind Frauen in Europa den Männern natürlich nicht gleichgestellt, sie tun aufgrund einiger Vorteile aber so, als ob es der Fall wäre. Die Wunschfantasie des westlichen Mannes ist eine passive, intellektuelle Frau mit Größe 38, die arabische Fantasie ist die von Scheherazade, die mit Worten Männer befriedigen kann. Hier wie dort ängstigt die subversive Intelligenz erfolgreicher Frauen die Männer, weil sie deren Macht in Frage stellt.
In Köln zeigen Sie auch Ihre Performance „Truth Box“, bei der Schauspieler in einem Beichtstuhl Passanten Sünden gestehen. Liegt im öffentlichen Geständnis privater Verfehlungen nicht ein Widerspruch?
Natürlich, aber gerade dieser Widerspruch soll eine Reaktion provozieren. Wir lösen das Ritual des Geständnisses aus dem Kontext der Kirche und installieren es in einer Fußgängerzone. Es ist der Versuch, der Öffentlichkeit ihre ursprüngliche Bedeutung einer Agora zurückzugeben: als Ort der Reflexion und der Teilhabe. Wir verändern dadurch das Verhältnis von Schauspieler und Zuschauer. Sowohl durch die physische und intensive Nähe in einer 1:1-Situation wie durch die Umkehrung der Rollen. Normalerweise geht der Gläubige zur Beichte, in der „Truth Box“ nimmt das Publikum die Beichte ab. Der Zuschauer ist nicht länger passiv, er übernimmt die Rolle des Priesters und kann entscheiden, ob er für die gestandene Sünde Absolution erteilt oder nicht. Die Verantwortung des Zuschauers wird zum Aufruf ziviler Aufmerksamkeit.
Ist das private „Geständnis“ durch die sozialen Netzwerke nicht längst epidemisch geworden?
Worin kann heute Schuld bestehen? Und worüber sprechen wir nicht? Vor allem unter den Bedingungen einer Kommunikationsgesellschaft, in der wir unsere persönlichen, intimen Erlebnisse in den sozialen Netzwerken veröffentlichen, und in der kaum noch Raum für das Geheimnis besteht. Diskretion bekommt so einen unschätzbaren Wert. Wir werden überschwemmt von Enthüllungen und haben kaum noch Zeit, auszusortieren. Doch trotz der „Teilhabe“ und der internationalen virtuellen Solidarität fühlen sich die Menschen immer schwächer, einen politischen und gesellschaftlichen Wechsel herbeizuführen. „Truth Box“ ermutigt zum Engagement, enthüllt aber auch kritisch das Unterdrückte, die Täuschung, die Manipulation und die schuldhafte Verstrickung des Menschen in unlösbare Widersprüche.
„Globalize Cologne“ I 16.11.-1.12.
Stücke von Meriam Bousselmi: „The Sin of Success“ I 20./21.11. 20 Uhr
„Truth Box“ I 29./30.11. 16 Uhr/1.12. 11 Uhr I St. Gertrud
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