Christoph Nußbaumeder ist der erste Preisträger des mit 15.000 Euro ausgestatteten Autorenpreises des KunstSalons für das Schauspiel Köln. Ausgezeichnet wurde er für sein Stück „Die Kunst des Fallens“, in dessen Zentrum einBiergarten und seine immergleichen Besucher stehen. In dieser Wärmezone des gesellschaftlichen Halbschattens, die von Wirtin Monika und ihren beiden Töchter Steffi und Sigrid in der Sommersaison betrieben wird, blühen die Konflikte, die Dramen und die Sehnsüchte. Vor allem Sigrid wird zum begehrten Objekt und zur Projektionsfläche der Männer. Am Ende der Freiluftsaison gibt es einen Toten, und der Biergarten wird endgültig geschlossen.
choices: Herr Nußbaumeder, im Mittelpunkt Ihrer Stücke stehen immer wieder Außenseiter wie eine polnische Saisonarbeiterin, eine Philippinin oder ein Analphabet. Was bedeutet Ihnen Heimat?
Christoph Nußbaumeder: Mich interessiert der Verlust der Heimat, und was das mit den Figuren macht. Ich glaube, dass sich der Mensch geworfen und verlassen fühlt. Das wird ihm umso deutlicher bewusst, wenn er diesen Vertrauensort ‚Heimat’ verliert. Das kann ein konkreter Ort sein, das können aber auch die Sprache oder die Familie sein.
Ihr neues Stück „Die Kunst des Fallens“ spielt in einem Biergarten. Ist das auch eine Art Heimat? Ja. Ein Stück Heimat, das man seit Jahren auf- sucht und das den Menschen eine gewisse Wärme entgegenbringt. Ein Refugium, an dem sich die Figuren fallen lassen und in gewisser Weise sein können, wie sie sind oder sein wollen. Und natürlich auch ein öffentlicher Rückzugsort, an dem man sich austauscht, wo man Sorgen und Freuden mitteilen kann. Etwas, das früher einmal die Kirchen waren.
Das würde nahelegen, dass es sich bei den meisten Figuren Ihres Stücks um Einsame handelt.
Im Sinne einer existenziellen Einsamkeit, wie sie jeder schon mal kennengelernt hat. Ich habe das Stück in der ersten Fassung einem befreundeten Soziologen zu lesen gegeben, der darin eine plastische Umsetzung dessen erkannte, was man in der Soziologie den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft nennt. Das fand ich aufschlussreich. Eigentlich geht es also um eine Übergangszeit.
Wie zeigt sich dieser Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft? Als ein Auflösen der öffentlichen Refugien und Vertrauensräume. Auch wenn der Spielort eine Gastwirtschaft ist, wirkt sie wie ein Vertrauen stiftender Magnet, der die Menschen anzieht. Es gibt hier familienähnliche Bande, auch wenn die mit Intrigen und übler Nachrede gespickt sind.
Ein menschlicher Magnet ist die Außenseiterin Sigrid, die von den Männern umschwärmt wird. Was trennt sie von den anderen? Die Männer projizieren viel in sie hinein. Gleichzeitig lebt sie in ihrem eigenen Kosmos. Ohne das mit psychoanalytischen Begriffen aufladen zu wollen, kann man sie als gespaltene Persönlichkeit be- zeichnen. Sie hat einen anderen Realitätsabgleich. Sigrid ist weniger auf Nutzenkalkül ausgelegt. Ihre Naivität ist erfrischend, und so tritt sie den Leuten gegenüber. Das macht sie umso verletzlicher. Ich habe kürzlich bei Nelly Sachs, die eine große Außenseiterin der deutschen Literatur war, die Formulierung „hineingeworfen in ein Außerhalb“ gelesen. Diese Umschreibung trifft auch auf die Figur der Sigrid zu.
Außenseiter spielen in Ihren Stücken eine große Rolle ...
Wir leben mehr oder minder in einer sehr verwalteten Welt. Die Außenseiter in meinen Stücken sind Utopieträger, die durch ihre Naivität diese Welt des Zwecks hinterfragen. Vielleicht sind es deshalb oft Frauenfiguren, die ja intuitiver handeln. Auch wenn sie nicht unschuldig sind, steckt da auch das Bewahren einer gewissen Reinheit drin und die Überzeugung, gegen diese Mechanismen des Kalküls vorzugehen.
So wie in Ihrem Stück „Mindlfingers Goldquell ...“ an Ibsens „Volksfeind“ anklingt, so erinnert „Die Kunst des Fallens“ ein wenig an Tschechows „Kirschgarten“. Lässt sich Ihr Stück auch als Komödie verstehen? Es sind sehr viele komische und irrwitzige Passagen dabei, und ich bin sehr dafür, dass da gelacht wird. Im besten Fall hat das eine existenzielle Tragweite im Sinne von „Du hast keine Chance, aber nutze sie“. Und da hilft nur das Lachen. Wenn man sich selbst dabei erkennt und über sich lacht, dann funktioniert es, wenn man nur über die Figuren lacht, dann hat es einen Zooeffekt.
Ähnlich wie bei von Horváth stammt das Personal Ihrer Stück vorwiegend aus der Schicht der Angestellten und Arbeiter und nur zum Teil aus der des Bürgertums.
Das hat damit zu tun, dass ich mit dieser Schicht aufgewachsen bin und sie sehr gut kenne. Das verankert schon mehr, als man denkt. Außerdem sind das Figuren, die nicht so verkopft sind und ein analytisches Denken mitbringen. Da ist eine direktere Kraft vorhanden. Ich mag es ganz gern, wenn Wahrheiten in einer gewissen Unschuld und Reinheit ausplaudert werden.
Ihre Stücke haben eine unübersehbare sozialkritische Komponente. Würden Sie sich als politischer Autor definieren? Nicht im Sinne der Themen oder der Materials. Eher in dem Sinne, dass mir Fragen wichtiger sind als Antworten.
Wie viel Einfluss nehmen Sie auf die Regie bei Uraufführungen? Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. In Köln bin ich nicht dabei. Natürlich möchte ich, dass in meinem Sinne inszeniert, das Stück durch meine Brille des Humors gesehen wird. Ob alles gepasst hat, weiß man oft erst nach der Uraufführung.
ZUR PERSON
Christoph Nußbaumeder wurde 1978 in Eggenfelden/Niederbayern geboren. Nach Abitur und Zivildienst studiert er Jura, Germanistik und Geschichte an der FU Berlin. 2004 gewinnt sein Debütdrama „Mit dem Gurkenflieger in die Südsee“ den Stückewettbewerb der Schaubühne, gleichzeitig erhält Christoph Nußbaumeder das Thomas-Bernhard-Stipendium des Landestheaters Linz. 2006 folgen „Mindlfinger Goldquell oder Wir scheißen auf die Ordnung der Welt“ und „Liebe ist nur eine Möglichkeit“. Im selben Jahr wird Nußbaumeder Hausautor am Nationaltheater Mannheim, wo sein Stück „Jetzt und in Ewigkeit“ uraufgeführt wird. Am Schauspiel Köln kam 2008 sein Werk „Mörder-Variationen“ heraus. Das neue Stück „Die Kunst des Fallens“ erhielt den Autorenpreis des Kölner KunstSalons. Christoph Nußbaumeder lebt in Berlin.
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