choices: Herr Fürst, wer war Jean-Michel Basquiat?
Jörg Fürst: Jean Michel Basquiat war ein amerikanischer Graffitikünstler. Sein Image des streetartist entspricht aber nur teilweise seiner eigenen Geschichte. Basquiat kam aus der amerikanischen Mittelschicht und hat seine Taggings, also seine Schriftzeichen, sehr gezielt in der Nähe von Galerien in Soho und Greenwich Village gesprüht. Seine Graffitis waren allerdings nicht diese bunten Schriftzüge, wie wir sie kennen, sondern Sprüche wie „SAMO does not cause cancer“. SAMO war das Pseudonym, unter dem er gearbeitet hat. Er kam dann relativ schnell mit der Kunstszene in Kontakt und stieg als Zögling, wie böse Zungen sagen, ich glaube eher als Partner von Andy Warhol zu einem Liebling der internationalen Kunstszene auf. Die Frage, die ihn selbst Zeit seines kurzen Lebens, er ist 1987 mit 27 Jahren gestorben, beschäftigt hat, lautet: Ist er erfolgreich, weil er gut oder weil er schwarz war?
Wie nähert sich das A.TONAL.THEATER dem Maler Jean-Michel Basquiat?
Wir versuchen, möglichst authentisch zu bleiben. Wir bauen ein Recherchezentrum auf und werden alle Ebenen, auf denen wir selber recherchiert haben, präsent machen. Es geht nicht um die Nachstellung einer Biographie, sondern nachvollzogen werden soll, was man über diese Person finden kann. Damit wird gleichzeitig die Begrenztheit aller Recherche vorgeführt, ob mit You Tube, über Google, Schallplatten oder Bücher. Wir arbeiten außerdem mit zwei Turntables, greifen auf die Tagebücher von Andy Warhol zurück, der seine Begegnungen mit Basquiat festgehalten hat und das Verhältnis zwischen beiden Künstlern thematisiert. Eine andere Quelle für uns war der Zeitzeuge Walter Dahn, der sich damals in Basquiats Umfeld in New York bewegt hat, der allerdings nicht selbst auftreten wird.
Die Bildende Kunst als Thema sowie Recherche und Dokumentation als sichtbares theatrales Mittel spielte bei A.TONAL bisher kaum eine Rolle. Wie kam es dazu?
Das hat mit der Biographie des Ensembles zu tun. Wir haben lange Jahre einen Bogen um Stückentwicklungen gemacht, weil sie sehr viel Arbeit bedeuten und ein hohes Risiko bergen. Jetzt hatten wir das Gefühl, wir müssen uns wieder Neuland erobern. Zudem verfolgt mich Jean-Michel Basquiat mit seiner Verbindung von Schrift und Bild schon lange. Zur Hälfte ist das also ein Neuansatz, zur anderen Hälfte haben wir auch bisher die theatrale Form immer aus einem Stück oder einem Thema abgeleitet. Ich komme ja eigentlich aus der Bildenden Kunst, und die Frage „Wie geht man mit Bildender Kunst auf der Bühne um“ stand auch am Anfang unserer Arbeit. Wir zeigen natürlich kein Originalbild von Basquiat, aber wir versuchen, seine Arbeitsweise in unserem Abend durchscheinen zu lassen. So wie er heterogenste Stilmittel benutzt und daraus eine innere Logik geformt hat, so wird es bei uns Videoeinspielungen, Livekameras, Livemusik, Texte über Mikro oder verfremdende Sprachloops geben, und das kommt der Arbeitsweise von Basquiat sehr nahe.
Heißt das, die Darsteller spielen am Abend Recherche?
Obwohl das ein wüstes Zusammenspiel verschiedener Medien ist, heißt das nicht, dass wir uns dumm stellen. Wir starten als wissende Rechercheinstrumentalisten, und die Sachen sind schon choreographiert und arrangiert. Auf der Basis unserer Recherche präsentieren wir diesen Kosmos, der nicht nur Jean-Michel Basquiat, sondern auch die 1980er Jahre umfasst. Damals startete eine Epoche, die mit dem Tod von Michael Jackson zu einem symbolischen und der Finanzkrise einem ökonomischen Ende gekommen ist.
Geht es da auch um die Frage einer schwarzen Identität?
Basquiat war der erste schwarze Superstar der Kunstszene in einer Zeit, als den Schwarzen die großen Helden weggestorben waren. Er thematisiert das sehr deutlich und schafft sich eine Galerie schwarzer Ikonen von dem Baseballspieler Aaron bis zu dem Jazzmusiker Charly Parker. Andererseits hat ein Rapper ihn verbal in die Pflicht genommen, seiner Verantwortung als schwarzer Künstler gerecht zu werden. Basquiat war ein junger wacher Künstler, der Karriere machen wollte, den die Absurdität seiner Vermarktung aber auch von seinen Wurzeln entfernt hat. Insofern greift es zu kurz, ihn auf seine Hautfarbe zu reduzieren.
Ein solcher Einsatz dokumentarischer Mittel stellt die Frage nach Realität und Fiktion auf der Bühne und der Konstruktion von Identität. Wie geht A.TONAL.THEATER damit um?
Wir sind gerade an dem Punkt, inwieweit wir das deutlicher thematisieren sollen. Natürlich werden wir Basquiat nicht als Figur auf der Bühne haben. Wir arbeiten mit einem Negativ, das seine Umgebung zeigt und ihn als Leerstelle freilässt – auch wenn die Darstellerin Azizé Flittner, die eine afrikanische Familiengeschichte hat, als Projektionsfläche für Basquiat dient.
Welche Rolle spielt die Musik an dem Abend?
Alles, was auf der Bühne zum Einsatz kommt, wird wie das Instrument in einem Orchester unterschiedlicher Recherchemittel eingesetzt. Jede Anwendung der Computer, der Turntables, der Sprache oder der live gespielten Musik ist durchkomponiert wie in einem Musikstück; es gibt jedoch auch improvisierte Stellen, die eher offenen Sessions ähneln.
Der Abend wird in englischer Sprache gespielt, warum?
Die Tagebücher von Andy Warhol sind für uns der Taktgeber des Abends, lassen sich aber nur schwer übersetzen. Auch das andere Material ist ausschließlich englischsprachig. Mit der Zeit wurde das Englische zu einem Kunstmittel, mit dem man einerseits diese vermeintliche Authentizität erreicht. Andererseits ist es für die Schauspieler fremdes Terrain und rückt das Stück vom Publikum ein wenig weg – was mir sehr wichtig war.
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