Es wird Herbst und das Theater besinnlich. Zeit für die Seelenbespiegelung und ein paar Gedanken zur deutschen Lage. Gestern und heute. Das Schauspiel Köln holt das Gemütsbulletin „Groß und klein“ vom uckermärkischen Einsiedler Botho Strauß in einer Inszenierung von Lilja Rupprecht auf die Bühne. Dieser Zustandsbericht über die emotionale Vereisung der Republik in den späten 70er Jahren ist in seiner seismographischen Genauigkeit nach wie vor beklemmend. Lotte Kotte aus Remscheid-Lennep, eine Entwurzelte, reist durch die Republik und trifft auf eine sich narzisstisch in ihre Probleme und Statusfragen einspinnende Mittelschicht. Von hier ist es nicht weit zu Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“,einer Erzählung über reiche Bürger aus dem Rheinland, die während der französischen Revolution ihre Anwesen verlassen müssen. Wie bei Strauß ein einschneidendes politisches Ereignis und seine Folgen. Goethe allerdings fängt in seiner Novellensammlung den politischen Streit und Abbruch des Gesprächs, zum Beispiel im Streit zwischen Karl und dem Grafen, auf und beschwört einen Neuanfang der Kommunikation. Einem Neuanfang, der bei allen unterschiedlichen Meinungen auf das wohltemperierte Gespräch und das Geschichten-Erzählen setzt. Dialog und Fiktion in Zeiten bedrängender Realität. Es geht in den erzählten Geschichten um Themen wie Horror, Erotik und Moral, vor allem aber darum, wie in Krisenzeiten überhaupt eine geglückte Kommunikation zustande kommen und welche Rolle dabei die Kunst spielen kann.
Wer die Rolle der Kunst in schwierigen Zeiten für überflüssig hält, der sollte sich die Folgen von Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen!“ vor Augen halten. Für ihren provokativen Text verlor die indisch-französische Autorin ihren Dolmetscher-Job bei der Pariser Migrationsbehörde. Man hatte schlicht Kunst und Wirklichkeit miteinander verwechselt. In ihrem Text schlägt die Dolmetscherin einer Migrationsbehörde einem Asylbewerber eine Flasche über den Kopf und wird verhaftet. In einem gewaltigen Monolog erzählt sie vom Desinteresse der Beamten, den lächerlichen Täuschungsmanövern der Asylbewerber, von der Frauenverachtung auf beiden Seiten und der Unhaltbarkeit der „Lügenfabrik“ Asyl. Sinhas Protagonistin zeigt keinerlei Mitleid, weder mit dem Staat, noch den Flüchtlingen, zugleich aber gerät sie selbst in eine Identitätskrise, auf welcher Seite sie eigentlich steht.
Bleibt schließlich noch die Frage nach der Utopie. Das Theater-51grad hat alles verinnerlicht, was es derzeit an apokalyptischem Brennmaterial gibt, von Terror, Klima, Flüchtlinge bis zu Verschuldung und Big Data. Und wo bleibt das Positive? Die Truppe um Regisseurin Andrea Bleikamp begibt sich für „Die erschöpfte Demokratie“ ins Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Zusammen mit Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern soll das Publikum gemeinsam über alternativen Lebensformen nachdenken.
„Groß und klein“ | R: Lilja Rupprecht | 14.(P), 28.10. 19.30 Uhr, 16.10. 18 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
„Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ | R: Luise Voigt | 24.11.(P) 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
„Erschlagt die Armen!“ | R: Daniel Kuschewski | 3.(P), 4., 5., 17.-19.11. 20 Uhr | FWT | 0221 32 78 17
„Die erschöpfte Demokratie“ | R: Andrea Bleikamp | 23.(P), 25., 26, 28., 30.11. 20 Uhr | Theater-51grad/Max-Planck-Institut | 0160 802 09 96
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