Das Leben war schon immer eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das Was-wäre-wenn gehört zum Alltag dazu, weil es das prospektive wie das retrospektive Durchspielen von Möglichkeiten erlaubt. Max Frischs Komödie „Biographie. Ein Spiel“ exerziert das Experiment einer Neuformatierung am Leben des Verhaltensforschers Hannes Kürmann durch. Er vermutet den Kipppunkt seiner Existenz dort, wo er seine zweite Frau Antoinette Stein kennengelernt hat. Bei einer Party nachts um zwei Uhr, als die letzte Zigarette immer weitere nach sich zieht. Ein männlicher Spielleiter (Tobias van Dieken) in Jackett und Streifenleggings und seine Kollegin im Tutu (Caroline Kohl) kontrollieren das Spiel und helfen beim Re-Enactment: Soufflieren den Dialog, machen Vorschläge, erinnern an Vergessenes, brüllen auch mal dazwischen.
Regisseurin Sandra Reitmayer nutzt die Metapher des Zirkus‘ (Ausstattung: Silvie Naunheim), um Max Frischs Versuchsanordnung durchzuspielen. Vor einer Wellblechwand sind zwei bewegliche Manegenbrüstungen aufgebaut, zwischen denen Kürmann immer wieder den Absprung sucht und doch mit Antoinette im Bett und dann in der Ehe landet. Reitmayers Fassung streicht alles, was nach historischen politischen Verweisen klingt. Das Textgewebe zwischen den vier Akteuren ist extrem verdichtet und lässt sich die komischen Wirkungen der Dialoge nicht entgehen. Die Leichtigkeit des gespielten Seins.
Marc Fischer im kariertem Jackett und Cordhose wirkt nur nach außen schluffig, kommt aber selten aus seinem rationalen Distanzkorsett heraus. Er ist ein kontrolliert- narzisstischer Wissenschaftler, der immer wieder in den ritualisierten Verhaltenscodices der Geschlechter strandet, stranden will. Sabine Wolf als Antoinette dagegen gibt den distanzierten und willigen Spielball von Kürmanns Erinnerungen zwischen unnahbar kühl und desinteressiert. Dass das Spiel auch auf Verabredung wie im Zirkus oder im Theater basiert, wird klar, als Kürmann letztlich scheitert. Völlig anders dagegen Antoinette: Als ihr die zweite Chance eröffnet wird, trennt sie sich sofort von Kürmann und verschwindet von der Bühne in die Realität.
„Biographie: Ein Spiel“ | R: Sandra Reitmayer | Theater der Keller | 11., 15., 22., 28., 29.10. 20 Uhr | 0221 318059
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