choices: Frau Hofmann, Herr Lindholm, Ihr Abend trägt den Titel „Noch nicht. Desinformationsabend für inoffizielle Mitarbeiter“. Warum und wie sollen die Zuschauer desinformiert werden?
Hannah Hofmann: Ursprünglich sind wir von der Frage ausgegangen, wo eigentlich die vielen Stasi-Mitarbeiter geblieben sind. Und was hatten sie für eine Ausbildung? Da kommt man dann schnell zu der Vermutung, dass diese Ausbildung vor allem in Beobachtung bestanden haben muss. In dem Bildband „Das Auge der Partei“ haben wir eine Fotografie-Strecke entdeckt. Da sieht man einen Briefkasten; auf dem zweiten Foto eine Person, die daran vorbeigeht und dann wieder den Briefkasten. Darunter die Bildunterschrift: „Noch ist nichts passiert“. Die Unterschrift bietet eine Projektionsfläche, und das ist genau der Vorgang, der uns im Stück beschäftigt.
Steht die Stasiproblematik noch im Zentrum, oder war sie nur der Auslöser?
Hofmann: Ausgegangen sind wir vom Thema Verdacht, um dann über eine Wertedebatte schnurgerade beim Thema Sicherheit zu landen. Welche Werte haben wir? Welche Werte gilt es zu schützen? Und wie kann ich mich oder Dinge in Sicherheit bringen. Da ist man dann bei Themen, die von Geburt, Herkunft über Tradition und Elternhaus bis zu Tod reichen.
Zum Kennzeichen Ihrer Arbeit gehört, dass sie mit Laien bzw. Komplizen arbeiten.
Sven Lindholm: Wir arbeiten mit fünf Leuten, die unterschiedlichen Berufen nachgehen. Es ist eine Köchin dabei, eine Krankenschwester mit Schauspielausbildung, ein Buchhändler, ein Musikpädagoge und ein Ankleider aus dem Theater. Wir haben sie mit dem Auftrag losgeschickt, ihre Werte zu sichern.
Was für Werte sind das? Materielle oder immaterielle Werte?
Lindholm: Für eine Person ist es wichtig, die eigene Geschichte zu sichern. Da geht es dann um Gedenkstücke, in denen sich diese Geschichte widerspiegelt. Bei einem anderen geht es um materielle Werte, also Geld. Es kann um Dokumente gehen, die mein Leben dokumentieren. Einer Person sind Kontakte zu anderen Menschen sehr wichtig, es wird aber auch der Körper thematisiert.
Hofmann: Wir haben am Anfang eine lange Liste aufgestellt und dann immer mehr rausgestrichen, was doch nicht so wichtig ist. Es geht dabei auch ums Loslassen. Das war eine einschneidende Erfahrung, mit der wir nicht unbedingt gerechnet haben.
Bei Dokumentensicherung denkt man natürlich an das Historische Archiv, beim Geld an den Bankencrash. Wovon hängt das Sicherheitsgefühl der Menschen ab?
Lindholm: Das Stück argumentiert aus privater und nicht aus öffentlicher Sicht, fragt nicht nach gesellschaftlicher Sicherheit, sondern nach der des Einzelnen. Natürlich versuchen wir, mit kleinen Dingen auf etwas Großes wie die Bankenkrise hin abzustrahlen. Im Stück zitieren wir Marietta Slomka, die im „heute Journal“ gesagt hat „Meteorologen behaupten, draußen wütet ein riesiges Unwetter, wenn man aber aus dem Fenster sieht, ist dort strahlender Sonnenschein.“ Das ist das Leitmotiv, mit dem wir arbeiten. Unser Probelauf versucht, den strahlenden Sonnenschein als Vorbereitung auf das schlechte Wetter zu nutzen. Orte zu finden, wo Sicherheit vielleicht noch Geltung haben könnte.
Ist das Reden von der Krise also eine Information oder eine Desinformation?
Hofmann: Eine Desinformation. Oder eine Information. Das ist genau die Schwelle, und deshalb ist die Frage nicht zu beantworten.
Inwieweit spielt die Ebene des Verdachts eine Rolle?
Hofmann: Wir meinen, dass das Verdächtigste die Oberflächen im öffentlichen Raum sind, hinter denen sich Hohlräume befinden. Wie tote Briefkästen. Wir haben ein Informationsgespräch mit dem Verfassungsschutz geführt, das unsere These durch das Verweigern einer Antwort bestätigt hat. Im Gespräch mit einer Security-Firma in Köln-Hahnwald fiel der Satz „Wir müssen jede Öffnung schließen“. Nachdem also die elektronischen Medien zu viele Zugänge und somit keine Sicherheit mehr gewähren, weil alles offen ist, wird der tote Briefkasten, dieses nostalgische Ding, zum Medium unserer Sicherheitsdebatte, mit dem Informationen ausgetauscht werden.
Lindholm: Es gibt sehr viele tote Briefkästen, und es gibt sie an den absurdesten Orten. Unsere These ist, dass der tote Briefkasten als Hohlraum hinter der Oberfläche sicherer ist als bestimmte private Räume.
Aber auch der öffentliche Raum wird zunehmend von Kameras überwacht.
Hofmann: Eine Überwachungskamera in der U-Bahn ist nicht dazu da, einen Überfall zu verhindern, sondern zur Abschreckung, oder um im Nachhinein zu klären, wer es war. Viele Kameras sind auch nicht sichtbar oder Dummies. Ich glaube nicht, dass es um die Erhöhung der Sicherheit geht, sondern eher um eine Informationssammlung über eine Gesellschaft, die dann verwertet wird.
Lindholm: Wenn man sich im Privaten nicht mehr sicher fühlt und in den öffentlichen Raum begibt, dann ist diese Kamera möglicherweise nicht mein Freund, wenn ich bestimmte Dinge tue, die sich in einer Grauzone abspielen.
Hofmann: Sie könnte aber auch ein Freund sein. Wenn Sie ein Scheinmanöver starten und die Kamera dabei im Rücken haben, die dann ihr Vorgehen sichert.
Es geht also auch um Strategien, mit bestimmten Sicherheitsstrukturen umgehen zu lernen.
Lindholm: Genau, also wo kann ich sie für mich nutzen.
Hofmann: Das macht Lücken im System sichtbar. Und das ist dann brisant.
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