choices: Herr Schüßler, was hat die Revolution mit den Bremer Stadtmusikanten zu tun?
Daniel Schüßler: Viele Punkbands wollten sich nichts mehr von den Konzernen vorschreiben lassen, nicht 15 Semester Jazzgitarre studieren, sondern einfach Musik machen und dann eben nur mit drei Akkorden. Diese Qualität, die über Antiqualität läuft, interessiert mich. Da liegen dann die Bremer Stadtmusikanten als Punkband nicht fern. Auch uns geht es um Demokratisierung von Produktionsmitteln, um Kunst, Protest und die Suche danach. Zudem braucht jede gute Revue ihre Showband. Und das soll das Projekt ja werden. Eine Revue über das, was stört, was fehlt und was kommen muss. Zugleich interessieren mich Utopie, das Scheitern von Utopie und Dystopie. Und so versuchen wir, das Ganze auf der textlichen Ebene mit Tom Lanoyes Stück „Festung Europa“ zu verknüpfen, das ebenfalls diese Themen behandelt. Ein Text, der eine kongeniale Folie für unser Treiben bietet und von Menschen auf der Wanderschaft irgendwo an einem Bahnhof im Inneren des verbrauchten Kontinents um das Jahr 2020 spielt. Wie das Projekt dann letztendlich heißen wird und wie viel von den ganzen Ebenen übrig bleibt, können wir zum momentanen Zeitpunkt noch gar nicht sagen. Ein spannendes Experiment wird es allemal.
Die vier Stadtmusikanten, der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn sind also die Renitenten, die Außenseiter der Gesellschaft?
Zumindest sind es diejenigen, denen es nicht so gut geht und die etwas ändern wollen. Wir haben die 1. Mai-Demo, die Kita-Demos aber auch die Europa-Deutschland-Köln-Alles Scheiße-Demo gefilmt. Ein super Titel übrigens, der uns sehr inspiriert hat. Wir haben Menschen auf der Straße interviewt. Was bedeutet für euch Revolution? Was bedeutet Glück? Welches Tier wollt ihr bei den Bremer Stadtmusikanten sein? Die meisten haben „Hahn“ geantwortet, weil sie ganz oben stehen wollen – das spricht ja für sich. Und daraus bauen wir eine Videoinstallation für den Abend.
Das Analog Theater hat bisher eher selten mit dokumentarischem Material gearbeitet.
Über diese dokumentarische Ebene erweitert sich unser Projekt und gibt mir Möglichkeiten für zusätzliche inhaltliche Ebenen. So kann der Abend beispielsweise visuell in eine surreale Welt abdriften, in der man den Geschmack von Demonstration vermittelt bekommt und dann wieder ganz scharf realistisch wird.
Gibt es eine Handlung?
Es geht um eine radikale Theatergruppe, die eine Theater-Zirkus-Revue auf die Bühne bringen will, die sich gegen die bestehenden Normen wendet. Sie singen Lieder, die von der Berliner Band „Mutter“ inspiriert sind. In deren Song „Ohne diese Dinge leben“ heißt es: „Solang es Menschen gibt! Und solang Sie denken müssen! Wird es schlechte, kranke Gedanken geben. Und das ist gut so! Ich will in keiner besseren Welt ohne diese Dinge leben“. Also, das heißt: Wir werden jetzt euren gescheiterten Utopieentwürfen unser anarchistisches Konzept entgegenstellen und euch provozieren, indem wir euren Protest als Selbstlüge entlarven. Am Ende des Abends aber wird die Truppe auf der Bühne feststellen, dass ihr eigenes Konzept von Freiheit im Prinzip genauso gescheitert ist. Persönliche Leidensmomente nehmen überhand, Eifersüchteleien bestimmen das Handeln. Aus der Gruppe entwickelt sich einer zum korrupten Zirkusdirektor, den ich selbst spiele. Ich habe so ein Fahnenkostüm mit vielen Flaggen wie ein Flickenclown; ich bin also dieses Europa, ich bin die Europäische Union oder die Globalisierung und werde am Ende gestürmt, also umgebracht. Der Mensch mit seinem individuellen Macht- und Lustinteressen bringt jeden gutgemeinten Utopieentwurf ins Wanken. Ideologien kehren sich gegen sich selbst. Die Revolution frisst ihre Kinder.
Die Utopie ist letztlich zum Scheitern verurteilt.
Ich werfe ja gern ein zynisches, analytisches Auge auf Stücke und Konzepte. Das Problem in Zeiten wie diesen ist natürlich, dass Zynismus eigentlich nicht angesagt ist. Es sind ernste Zeiten, in denen es vielen Leuten schlecht geht, und da bekommt man schon das Bedürfnis, ein ernstes Stück zu machen. Ohne populistisch sein zu wollen, möchte man die Leute zu einem spontanen Volksaufstand aufrufen oder ihnen den Bau von Molotowcocktails erklären. Fänd ich schon OK. Im Grunde geht es aber darum zu untersuchen, warum diese Lebens- und Utopieentwürfe immer scheitern. Das ist die übergeordnete Ebene, die untersucht wird. Wir bieten keine Lösungen. Wir können nur Fragen stellen oder Bestandaufnahmen machen.
Wird es auf der Bühne neben den Schauspielern auch eine Band geben?
Wir werden selbst diese Band sein, die wir die Die Super-Beuys getauft haben. Von den Darstellern kann zwar keiner ein Instrument spielen, aber unser Bühnenbildner, der in einer Punkband spielt, leitet uns in den nächsten Wochen ein bisschen an. Mal gucken, was daraus wird. Immerhin gab es schon einige Punkbands, die in drei Wochen einen Auftritt auf die Beine kriegen mussten und dafür, in der Not, ganz tolle Songs geschrieben haben. Wir hatten auch mal die Idee, nur Lieder zu benutzen, die wir alle scheiße finden. Letztendlich bin ich aber jemand, dem die Arbeit mit Musik sehr wichtig ist. Neben all dem postdramatischen Hokuspokus möchte ich doch auch sehr atmosphärische Szenerien erzeugen, die auf filmische Bilder oder Opernbilder hinauslaufen. Von daher muss ich wahrscheinlich dann doch Musik verwenden, die ich mag, wie z.B. Hindemiths frühe Oper „Mörder, Hoffnung der Frauen“.
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