Die Auswahl ist gut. Jedes einzelne der dreizehn fotografischen Bilder von Raghubir Singh im Fotoraum des Museum Ludwig erzählt eine eigene Geschichte zu Heimat, Tradition, Fortschritt und kulturellem Wandel im Kalkutta der 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Die Aufnahmen können nur von jemandem stammen, der in Indien aufgewachsen ist und die Emotionen, Riten und Symbole versteht, aber auch aus einer objektivierenden Perspektive ihre Brüchigkeit und Vergänglichkeit und das Sichtbarwerden der Globalisierung erkennt.
Raghubir Singh war ein Kosmopolit, aber er ist immer wieder in seine Heimat zurückgekehrt. 1942 im indischen Jaipur geboren und 1999 in New York gestorben, arbeitete er als Fotograf für so bildgewaltige Medien wie die New York Times, National Geographic und Life. Er lebte seit den 1970er Jahren in Hongkong und Paris und später in London und New York. In Kolkata, wie Kalkutta seit 2001 wieder heißt, hat er wiederholt fotografiert, wie die Datierungen im Fotoraum anzeigen. Das Format der Fotografien aus dem Bestand der Museumssammlung ist moderat, aber mit dem, was sie festhalten und wie ihnen das gelingt, sind sie spektakulär.
Raghubir Singh wendet sich dem pulsierenden Geschehen auf der Straße zu, sucht aber auch stille Orte auf. Er zeigt den Handel vor der Börse und weist subtil auf die Spuren des Wahlkampfs, die sich an Hauswänden manifestieren. Vereinzelt tritt er in Häuser ein und tastet so mit der Wirkung von Licht und Schatten, Raumflucht und versperrender Wand ein Musikzimmer ab, das mit Porträts geschmückt ist und eine Hommage an Rabindranath Tagore und die bengalische Renaissance enthält. Auch erweist er sich als großartiger Porträtist, der von nahem sein Gegenüber – den Filmregisseur Satyajit Ray – fotografiert. Auf dem einzigen Hochformat der Ausstellung hat er einen Bräutigam mit seiner Gesellschaft gestaffelt am Fluss Hugli aufgenommen, darüber zieht sich das Stahlgerüst der berühmten Howrah-Brücke in die Tiefe. Immer wieder findet sich ein plötzliches Aufeinanderprallen des „alten“ Indien mit der „neuen“ Gegenwart. Gläubige feiern das Puja-Fest und im Hintergrund fährt ein weißes Auto durch die Szenerie. Einmal ragt ein Arm in das Bild hinein, in einem anderen Bild ist ein Rolls Royce im Vordergrund angeschnitten. Dazu türmt sich das Geschehen im Format auf, betont noch durch trennende Bildachsen.
Eine zentrale Rolle spielt die Farbigkeit, mit der sich Raghubir Singh zugleich gegen das Schwarz-Weiß der westlichen Street Photography positioniert und deren überschauender Distanz das synästhetische „Eintauchen“ in seiner Kultur entgegenstellt, wie er 1998 geschrieben hat: „Diese Zustände, die wesenhaft mit Farbe verbunden sind, haben den Geist Indiens seit jeher beflügelt.“ Zugleich verschmelzen die Raumebenen, alles geschieht auf einer Ebene und wird gleichermaßen Teil der Aufmerksamkeit.
Die Ausstellung endet im hinteren Bereich mit Fotografien, die Henri Cartier-Bresson, auf seiner Indien-Reise 1947 aufgenommen hat. Und so sehr er anfänglich Raghubir Singh geprägt hat – deutlich wird doch vor allem, wie eigen und großartig doch jeder der beiden Fotografen für sich ist.
Raghubir Singh. Kolkata | bis 6.11. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
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