choices: Herr Claessen, wie kam der Kontakt zum Theater im Bauturm zustande?
Max Claessen: Über die Dramaturgin Kerstin Ortmeier, die hier seit vergangener Spielzeit arbeitet. Wir kennen uns aus Erlangen, wo ich studiert und im Experimentiertheater herumprobiert habe. Kerstin, die eine große Netzwerkerin ist, hat dort meine ersten Gehversuche als Regisseur miterlebt. Als ich Regieassistent am Thaliatheater in Hamburg und sie auf Kampnagel war, haben wir uns wiedergetroffen.
War Falk Richters Stück „Trust“ Ihre Wahl oder ein Vorschlag des Hauses?
Kerstin hat es mir ‚angedreht’. Ich war aufgrund von Klischees wie Poptheater, DJ auf der Bühne, Prenzlauer Berg-Luxusproblemen dem Autor gegenüber kritisch eingestellt. Beim Lesen habe ich gemerkt, dass „Trust“ wenig mit aufgesetzter Coolness, dafür viel mit unserer Gegenwart zu tun hat.
„Trust“ besteht aus unterschiedlichen Texten und Textformen ohne Rollenzuweisung. Wie sind Sie vorgegangen?
Textflächen eröffnen mir als Regisseur größere Freiheiten im Zugriff auf den Text, mit dem ich dann sehr musikalisch umgehen kann. „Trust“ hat kein festes Konstrukt, das durchbrochen werden will, sondern ist bereits poetisch wie ein Gedicht. Wir haben also den Text zum großen Teil so belassen, nur hier und da etwas gekürzt. Allerdings muss man immer die Entscheidungen treffen, wer sagt was, und wie viele sagen es. Man kann die Texte als Monolog oder als Chor behandeln, und das war eine schwierige Entscheidung. Die Idee, anhand von zwei Figuren die Kulturgeschichte des Paares von Adam und Eva bis Bonnie und Clyde abzuarbeiten, haben wir verworfen. Beim Vorsprechen ergab sich dann eine Dreierkonstellation mit zwei Männern und einer Frau.
Richters Stück kombiniert die individuelle Perspektive des Paares mit dem Blick auf Probleme der Globalisierung. Wie verbindet sich das?
Es gibt für mich zwei Ebenen im Stück: die kleinen Problemchen des Paares, das sich zofft, wie oft es sich gesehen hat: 3 Wochen in 14 Jahren. „Szenen einer Ehe“ als Farce also. Und gleichzeitig gelingt es dem Stück, anhand dieser Probleme von der ganzen Welt und den Globalisierungszusammenhängen zu erzählen. Das Paar wird bei uns von zwei älteren Schauspielern gespielt, der junge Schauspieler spricht die Texte über Gewalt und Globalisierung. Alle drei Figuren stehen miteinander in Beziehung und erzählen so auch etwas über die Machtverhältnisse zwischen Menschen, auch zwischen Schauspielern. Damit sind wir bei der Grundsituation des Abends. Wir gehen von einer Performancegruppe aus, die sich in einem Klangraum mit drei Mikros befindet und den Text performt.
Wieso ein Klangraum?
Bei der Uraufführung hat Falk Richter mit choreographischen Elementen gearbeitet. Wir wollen hier in Köln den Körper und sein mögliches Verschwinden anders thematisieren, nämlich durch den individuellen Klang eines jeden Menschen. Hier spielen unsere Musikerin Nicole Nagel, die auch Stimmpädagogin ist, und die Idee der Bühnenbildnerin und freien Künstlerin Chili Martina Seitz zusammen. Die Bühne wird ein weißer Kasten sein mit einer Lautsprecherbox und drei Mikros. In diesem Raum werden die Performer von der Schallwelle ihrer Gedanken und ihrem Gebrabbel überwältigt. Das hat zum einen mit der Sehnsucht und dem Zwang zur eigenen Stimme als einem allgegenwärtigen Individualitätsdruck zu tun. Zum anderen sind die Texte auch Ausdruck von Verzweiflung: Wer aufhört zu reden, ist tot. Die drei Performer reden, um am Leben zu bleiben. Die Idee geht auf eine Textstelle in „Trust“ zurück, die auf den Zwang zur Performance in allen Lebenslagen Ebenen, ob im Beruf oder selbst bei der Yogaübung, hinweist.
Wie haben sie die Schauspieler gefunden?
Es gibt keine Figuren im Stück, es geht also nicht um psychologische Figurenzeichnung. Am Ende sollen die Schauspieler die Leichtigkeit von holländischen Darstellern haben. Das Persönliche spielt dabei eine große Rolle, und deshalb improvisieren wir sehr viel. Dafür braucht man eine gute Gruppe und Leute, die sich mögen. Ich habe zwei Castings gemacht und dabei den Text von völlig verschiedenen Seiten und in allen Varianten kennengelernt. Und jetzt bin ich mit der Besetzung Andreas Spaniol, Jonas Baeck und Regina Welz superglücklich.
Die Figuren bei Falk Richter scheinen kurz vor dem Zusammenbruch und einer totalen Überlastung zu stehen und wollen doch, dass alles so bleibt.
Die modernen Individuen, die Falk Richter beschreibt, wissen, wie es in Peking oder bei den Indios im Urwald aussieht. Sie haben eine Ahnung, wie es sich dort anfühlt. Sie waren sogar da und verstehen alle Zusammenhänge. Es ist ein Riesenuniversum an Wissen, und zugleich wissen sie, dass man das nicht im Griff haben kann. Ich verstehe den Willen, alles belassen zu wollen, auch positiv, weil ich oft selbst denke: Was du machst, ist toll, du hast eine Freundin, ist doch alles gut. Zugleich fordert der Satz in Beamtenmentalität, alles so zu lassen, wie es ist. Es bleibt ein Zwiespalt: Man will sich mit den Problemen Afghanistans oder Pakistans nicht belasten, andererseits empfindet man eine Verantwortung als Bürger dieses Landes.
Im Stück gibt eine Szene mit den Kindern des Paares. Die Tochter hat sich entschlossen, Sprengmeisterin zu werden. Haben nur noch die Kinder Widerstandpotential?
Es ist ganz normal, dass die Eltern das Erreichte sichern und die Kinder es verändern wollen. Im Stück gibt es allerdings den schönen Satz, dass die RAF im Innern des Systems, in den Banken angekommen ist und es jetzt mit dessen eigenen Mitteln, siehe Börsencrash, aus den Angeln hebt. Das Kind im Stück dagegen hat etwas Faschistoides. Es ist wertfrei aufgewachsen, ohne Bindung zu den Eltern, es ist begabt und intelligent und pervertiert schließlich das System der Eltern durch eine Wendung zum Bösen und zur Groteske.
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