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„Amnesie National“
Foto: Tim Mrosek

Sich bewegen heißt verdrängen

30. Oktober 2012

Ein Stück über die Bewältigung der Nachkriegszeit – Premiere 11/12

choices: Frau Förtsch, Herr Mrosek, im Mittelpunkt der Produktion „Amnesie National“ steht eine Frau, die sich durch die Trümmer der Nachkriegszeit wühlt. Das klingt irgendwie nach Veronica Ferres und deutscher Geschichte als Fernsehspiel. Was ist das für eine Frau?
Dorothea Förtsch:
Es geht nicht um das Einzelschicksal einer Frau. Unsere Hauptfigur steht außerhalb von Raum und Zeit, sie fungiert als Medium, um Schicksale zu erzählen; mal ist sie Trümmerfrau, dann wieder etwas anderes. Als Medium kann sie aber auch Verdrängung und Traumatisierung freilegen, also die Vermissten, Vergewaltigungen, Hunger, Vertreibung, die Erlebnisse der Bombennächte von Kindern. Es geht in einem übergeordneten Sinne darum, zu ergründen, wie Deutschland zu dem geworden ist, was es ist – und zwar nicht nur aufgrund von Demokratie und Wirtschaftswunder, sondern auch der verdrängten Dinge.
Tim Mrosek:
Wir wollen in den nächsten drei Jahren mit c.t.201 die deutsche Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Aspekt der individuellen und kollektiven Identitätsfindung erzählen. „Amnesie National“ setzt bei dem Phänomen der Vermissten an. Am Ende des 2. Weltkriegs galten ein Viertel der Deutschen als vermisst oder hatten einen Vermissten zu beklagen. Ein Gefühl, das heute unvorstellbar ist. Das Vermissen kann man als Gründungsgefühl und tief liegendes Trauma von BRD und DDR definieren.

Dorothea Förtsch
Foto: Caspar Müllers
Dorothea Förtsch studierte Schauspiel in Köln und ist als Theater- und Fernsehschauspielerin sowie als Sprecherin tätig. Neben Gastengagements an verschiedenen Bühnen ist sie festes Ensemblemitglied der Köln-Düsseldorfer Theater- und Performancegruppe ANALOG.

Wie haben Sie recherchiert?
Mrosek:
Wir sind nach München zum Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes gefahren, haben uns deren Arbeit erklären und durch das Archiv mit seinen Kilometern an Suchkarteikarten führen lassen. Zieht man eine Karte heraus, hat man ein Einzelschicksal in der Hand. Das hat uns einen Einblick gegeben und zugleich auch sehr berührt. Bis heute sind ca. 1,3 Millionen Fälle ungeklärt und es gehen nach wie vor wöchentlich mehrere hundert Anfragen ein. Und es werden immer wieder Schicksale geklärt, das sind natürlich nur noch die sogenannten Todmeldungen.

Und an diesem Trauma wird sich die Frauenfigur auf der Bühne abarbeiten?
Mrosek:
Wir arbeiten mit konkreten Einzelschicksalen, die wir anonymisiert haben und die exemplarisch funktionieren. Auf der anderen Seite gibt es diese Frauenfigur, die die Traumata anderer auf sich nimmt, weil sie keine Möglichkeit hat, sie zu verdrängen. Also eine Figur, die sich ständig damit auseinandersetzen muss, und zwar über eine Installation von Jasper Diekamp, eine Art Konservierungsmaschine, bei der wir mit Film arbeiten.
Förtsch:
Wir zeigen da keine Zeitzeugenberichte oder Interviews oder Originalbilder, das sind alles Kunstfiguren in einem Kunstraum.

Deutschland, speziell die BRD, gilt als Erfolgsstory. Wie kommen Sie darauf, von einer verdrängten Geschichte zu sprechen?
Mrosek:
Es steckt ein diffuses Gefühl dahinter, dass wir eine zutiefst traumatisierte Gesellschaft sind, ohne das genau belegen zu können. Wir fragen danach, wie sich die psychische Situation Deutschlands entwickelt hat. Interessant sind für uns die Linien, die sich durchziehen: Zum Beispiel die erziehungswissenschaftlichen Theorien im Dritten Reich, die auf emotionale Abstumpfung, Bindungs- und Beziehungsunfähigkeit zielten und die sich bis in die 80er Jahre ziehen. Oder dass die erzwungene Mobilität von Flucht und Vertreibung ein willkommener Vorwand war, sich nicht mit dem auseinanderzusetzen, was war. Man blieb geschäftig. Und diese Mobilität gilt bis heute als große Qualität in Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Das kann man als transgenerationale Traumavererbung bezeichnen.
Förtsch
: Oder in der DDR: Die FDJ war letztlich eine Fortführung der HJ und das KZ Buchenwald wurde als Lager für Kriegsverbrecher genutzt. Nach der Wiedervereinigung findet nun eine Verdrängung der DDR-Geschichte statt. Man lebt weiter mit den gleichen Kollegen und Verwandten, die einen bespitzelt haben. Oder denken Sie an den Mythos der Trümmerfrauen.

Tim Mrosek 11/12
Foto: Caspar Müllers
Tim Mrosek studierte an der Universität zu Köln und der University of Warwick Anglistik, Germanistik und Anglo-Amerikanische Geschichte. Mrosek arbeitet als freier Regisseur und als Dramaturg an der Studiobühne. Seine Arbeiten „Schwarzes Tier Traurigkeit“, „Toller/Fallada“ und „12“ wurden für den Kölner Theaterpreis nominiert.

Wieso ist die Trümmerfrau ein Mythos?
Förtsch:
Das Bild der Trümmerfrauen hat unsere Großmüttergeneration zwar aufgewertet. Sie waren dadurch am Aufbau von Deutschland beteiligt und bekamen so ein eigenes positiv besetztes Geschichtsbild. Aber die Mythologisierung stimmt einfach nicht.
Mrosek:
Wir arbeiten mit einer Geschichtswissenschaftlerin zusammen, die in ihrer Doktorarbeit diesen Mythos zerlegt. Sie zeigt, dass es das Phänomen nur in Berlin gab und dass der Begriff der Trümmerfrau bis in die frühen 80er Jahre eher negativ und erst mit der deutschdeutschen Verständigung positiv konnotiert wurde.

Gibt es nicht auch eine positive Form der Verdrängung?
Förtsch
: Positiv an der Verdrängung war, dass alles weiter funktioniert hat und das Land aufgebaut wurde.
Mrosek:
Am Anfang unseres Stücks fällt der schöne Satz „Man muss auch mal vergessen können“. Ich halte das für einen verständlichen Wunsch, dahinter steckt aber die Gefahr, dass man sich der politischen Verantwortung entzieht.

Betreibt „Amnesie National“ also eine Art alternativer Geschichtsschreibung?
Mrosek:
Wir wissen durch Guido Knopp und Spiegel-TV mehr über die NS- und Nachkriegszeit, als uns der Geschichtsunterricht vermittelt hat. Ohne dass wir Medienkritik betreiben wollen: Wir entwickeln ein alternatives Geschichtsbild dessen, was passiert sein könnte.

Ist es angesichts der Traumata nicht kurios, dass die Jahre von 1945 bis 1989 politisch und ökonomisch die besten Jahre der (West-)Deutschen waren, die so bald nicht wiederkehren?
Förtsch
: Obwohl ich weiß, dass ich nie wieder so ein Wachstum erleben werde wie in meiner Kindheit in den 80ern, bin ich trotzdem froh, dass ich so frei bin in Kopf und Geist. Ein gutes Beispiel ist Hannelore Kohl, die auch in „Amnesie National“vorkommt. Sie galt als Mutti Deutschlands und litt angeblich an einer Lichtallergie, die allerdings eher eine tiefe Depression war. Sie hat sich lieber hinter ihrer Krankheit verschanzt und sich dann schließlich umgebracht. Das ist für mich das Bild von Wohlstandsdeutschland. Damit will ich nicht tauschen.

Interview: Christoph Zimmermann

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