Wer schon einmal einen Nagel aus der Wand gezogen hat, weiß, wie kraftaufwändig das sein kann. So ein Nagel leistet Widerstand, ein Widerstand, der auch den Bewohnern der „Nail Houses“ zugeschrieben wird, die sich am Rande von Shanghai an ihre notdürftig in Stand gehaltenen Behausungen klammern. Peter Bialobrzeski hat sie fotografiert, „weil man hier den Überlebenswillen der Menschen erkennen kann. Für mich stellen die „Nail Houses“ eine Schnittstelle zwischen Urbanität und Politik dar“, erklärt der in Hamburg lebende diesjährige Träger des Dr.-Erich-Salomon-Preises. Diese wichtigste Auszeichnung für Reportagefotografie hierzulande wurde just in dem Moment von der Deutschen Gesellschaft für Fotografie bekannt gegeben, als in Köln das Forum für Fotografie die Ausstellung „Habitat“ von Bialobrzeski eröffnete.
Wie schon mit seinen Präsentationen von Michael Wolf oder Anders Petersen beweist das Forum kontinuierlich, dass es den Puls der internationalen Entwicklungen genau wahrnimmt. Bialobrzeskis Ästhetik verkörpert denn auch eine politische Haltung. Der 1961 in Wolfsburg geborene Bialobrzeski wählte für seine Aufnahmen in Shanghai die frühen Abendstunden, weil die kleinen, von Schutt und zahlreichen Beschädigungen gezeichneten Häuser im Licht des Tages unbewohnbar wirken. Die Nacht in Shanghai ist hell und dunstig, Bialobrzeski vergleicht ihren Himmel mit dem trüben Grau eines Fernsehschirms. Erst wenn am Abend die Lampen in den Häusern entzündet werden, erkennt man, dass dort Menschen leben. Da Bialobrzeski mit langen Belichtungszeiten arbeitet, wirken die Häuser von innen wie magisch illuminiert. Jedes Haus unterscheidet sich, jedes wirkt wie eine persönliche Skulptur, eine in sich geschlossene Monade vor dem Hintergrund der gigantischen Skyline jener Wohnsilos, die auch dieses letzte Stückchen struppiger Urbanität schon bald erobern werden.
Die Ausstellung zeigt neben Bildern aus Manila auch Arbeiten der Serie „Informal Arrangements“, die in Kliptown, einer Slumsiedlung im südafrikanischen Johannesburg entstanden. Bialobrzeski fotografiert die Wohnräume, menschenleer, nur die Interieurs sind zu sehen. Die Wände sind mit buntem Zeitungspapier beklebt, die Einrichtungen bestehen fast nur aus Müll, der aber in der Not funktional genutzt und gestaltet ist. Sachlich konstatiert diese Fotografie die Wirklichkeit und schneidet einem beim Betrachten doch ins Herz. Denn diese Räume werden mit peinlicher Sorgfalt aufgeräumt. Die Zimmer legen nicht alleine Zeugnis ab vom Versuch, dem Chaos des Elends mit tapferem Ordnungssinn zu trotzen, sondern der Strohhut, der am Nagel an der Wand hängt, oder die Kleider und Jacken auf dem Bügel, sie sind auch Ausdruck einer Form von Würde, die sich ihre Bewohner nicht nehmen lassen wollen. In diesen Arbeiten wird sie besonders deutlich, die dezente aber umso subtiler wirkende Ästhetik, mit der Peter Bialobrzeski der Reportagefotografie eine politische Dimension verleiht.
Peter Bialobrzeski: „Habitat“ | Ausstellung bis 11.3. | Forum für Fotografie, Schönhauser Str. 8. | Geöffnet: Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa 12-18 Uhr, So 12-16 Uhr | www.forum-fotografie.info
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