Familie war schon immer der Ort, wo Grauen und Erfüllung dicht beieinanderliegen. Das Darsteller-Quartett auf der Bühne des Theaters der Keller formiert sich zum vierköpfigen familiären Normmodell. Erziehungsversuche wechseln mit pubertärer Genervtheit oder lautstark bekundeter Langeweile. Was bleibt den Kindern, als sich in die Apokalypse zu flüchten und sich von Gott einen Wirbelsturm zu wünschen – womit wir im amerikanischen Dreamland „Der Zauberer von Oz“ wären, den Regisseur Tom Müller mit dem kleinen Zusatz „there‘s no place like home“ versehen hat.
Der Inhalt des Märchens um die kleine Dorothy und ihre Erlebnisse im Land der Munchkins wird pflichtschuldig im Schelldurchlauf abgespult, denn der Abend zielt eher auf eine Dekonstruktion des „Oz“-Komplexes ab. Autor L. Frank Baums Forderungen nach moralischen Erziehungsstandards und weichgespülter Unterhaltungsliteratur für Kinder werden ironisch bloßgestellt. Das Quartett in seinen Patchwork-Kleidchen (Frank Casali, Tim Fabian-Hoffmann, Karolina Horster, Simon Rußig) streift sich Latexmasken mit Zöpfen über und durchmustert das Leben von Judy Garland, der Dorothy-Darstellerin in der berühmten „Oz“-Verfilmung von 1939. Ihre Drogenabstürze und ihre „Verwertung“ durch Hollywood dienen als Beweis für die Verlogenheit des „Zauberers“ sowie der gesamten Unterhaltungsindustrie. Lehrsätze zum „Heimat“-Begriff von Bodo Ramelow bis Björn Höcke werden mit L. Frank Baums im Chor vorgetragenen Aufruf zur „totale(n) Vernichtung der wenigen übriggebliebenen Indianer“ kurzgeschlossen. „Der Zauberer von Oz“ wird so zu einer kindlichen Camouflage der Vernichtungspolitik der indigenen Bevölkerung, der Praktiken der Sklaverei und des Rassismus der USA.
Doch es bleibt ein schlechter Geschmack zurück. Tom Müller entwickelt seine Kritik nur zu einem kleinen Teil aus der Analyse des Werks. Die Tötung der bösen Hexe durch Dorothy, die Szenerie mit den Affen oder die Brutalität des Blechmanns müssen als Beweise für Rassismus genügen. Wichtiger sind Müllers Verweise auf die Verwerfungen der Entstehungszeit und der Rezeptionsgeschichte. Die Gründe für Judy Garlands durch Drogenmissbrauch ausgelöstes Lebenschaos dürften vielfältiger sein als das Verwertungsinteresse Hollywoods oder falsche Erziehungsmaßstäbe. Die Inszenierung zielt mit ihrer Kritik zu selten mitten ins Herz ihrer Vorlage. Vor allem aber überdehnt sie mit den Verweisen auf Heimat und Erziehung ihren Deutungsrahmen erheblich. Das zeigt sich dann im letzten Viertel des Abends, der dramaturgisch immer weiter ausfasert. Von den Heimatbeschwörungen werden Bezüge zu populistischen Demokratieforderungen, faschistischem Ganzheitswahn oder angeschimmelter väterlicher Erinnerungspolitik hergestellt. Am Ende rutscht die Viererbande in goldenen Bodies über den Boden und zitiert den US-Bilderbuchklassiker „Die kleine Raupe Nimmersatt“ – als Bild der Infantilisierung und kapitalistischen Bereicherung in einem.
Der Zauberer von Oz – there‘s no place like home | R: Tom Müller | WA Ende September | Theater der Keller in der TanzFaktur | 0221 221 31 80 59
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