choices: Herr Kübler, nach der Uraufführung in Frankfurt wurde Nis-Momme Stockmanns „Die Ängstlichen und die Brutalen“ als sein bisher schwächstes Stück bezeichnet. Was macht es für Sie so interessant?
Torge Kübler: Einerseits ist es ein klassisches Kammerspiel mit zwei Brüdern, die ihren Vater tot vorfinden. Der Dialog wird allerdings unterbrochen von Gedichten und halbphilosophischen Ergüssen, die der Vater auf Zetteln hinterlassen hat. Und gerade diese Reibung hat mich gereizt. Ich habe mich zusammen mit der Dramaturgin Felizitas Kleine gefragt, wofür der tote Vater eigentlich steht. Natürlich beleuchtet der Konflikt zwischen den Brüdern Eirik und Berg den Werteverlust oder das spirituelle Vakuum der Gegenwart. Man kann diesen Konflikt aber auch als einen Kampf zwischen zwei Theaterformen verstehen.
Bleiben wir zunächst bei der Ausgangssituation. Zwei Brüder treffen sich nach Jahren an der Leiche ihres Vaters. Trauer wäre das Naheliegende. Was machen die beiden?
Die beiden finden ihren toten Vater, und sie finden diese Gedichte, von denen sie nichts wussten, d.h. sie haben ihren Vater ganz offensichtlich nicht gekannt. Das macht die Situation zunehmend verstörender und absurder. Eirik und Berg sind zudem sehr unterschiedlich: Der eine reagiert natürlich und sagt, unser Vater ist tot, wir müssen den Bestatter oder die Polizei anrufen; der andere ist eher verquast spirituell und will sich zunächst von seinem Vater verabschieden. Dieses Verhältnis kehrt sich im Laufe des Stücks um. Dem Jüngeren, der zunächst der Underdog war, geht es dann nicht mehr nur um den toten Vater, sondern er nähert sich einer nihilistischen Haltung an, dass also nichts mehr eine Bedeutung hat. Das macht Eirik wiederum Angst, der darin den Horror Vacui, also die Angst vor dem großen Nichts, spürt. Das hält die beiden in einem ewigen Clinch zusammen.
Wie lässt sich aus diesem Konflikt ein Wettstreit der Theaterformen herauslesen?
Beide Brüder sind eng mit dem Theater verbunden, sie lieben das Theater und können sich nichts anderes vorstellen. Eirik plädiert dafür, alles so durchzuziehen, wie das immer gemacht wurde, er möchte einfach nur eine gute Geschichte erzählen und vertritt ein eher konventionelles Theaterverständnis. Berg dagegen spricht vom Theater als eine Behauptung und ist auf der Suche nach neuen Formen.
Inwieweit schlägt sich die unterschiedliche Haltung der Brüder in ihrer Spielweise nieder?
Der eine gewinnt seine Stärke aus der Behauptung seiner Rolle, natürlich nimmt er den anderen wahr, bleibt aber stur in seiner Rolle. Der andere hat mehrere Möglichkeiten: Er gibt seinem Gegenüber, was es braucht, hat aber seine Zweifel am klassischen Geschichtenerzählen und zeigt, dass er den Bruder nur spielt.
Welche Rolle spielt in diesem Konflikt dann der Vater?
Wir haben eine ganz einfache Lösung gefunden und behaupten, die Leiche ist das Publikum. Das funktioniert sehr gut, weil die Darsteller sich immer wieder darauf beziehen und das tote Fleisch ansprechen. Natürlich sind die Besucher nicht tot, aber mit diesem Witz spielt die Inszenierung. Zugleich werden dadurch der gesamte Raum, Bühne und Zuschauerraum miteingebunden und die vierte Wand permanent durchbrochen.
Was bedeutet das für den Theaterraum?
Die Bühne im Theater der Keller ist sehr klein. Das ist nicht nur eine Begrenzung, sondern auch eine sehr große Qualität. Wir benutzen dafür ein klassisches Theatermittel: den Vorhang. Und nicht nur einen, sondern gleich mehrere. Die Überraschung, die sich hinter einem Vorhang verbirgt, ist natürlich ein klassisches theatrales Element. Das stellt außerdem einen Zusammenhang zur Figurenpsychologie her: Eirik ist derjenige, der die Vorhänge immer wieder zuziehen möchte, Berg derjenige, der die Vorhänge aufreißt und der Sache auf den Grund gehen möchte.
Welche Wirkung hat für Eirik und Berg die Erkenntnis, dass ihr Vater ein heimlicher Dichter, Müll- und Katzenleichensammler war?
Die Brüder treffen auf eine verstörende, völlig fremde Welt. Sie haben die ganze Zeit in einer mehr oder weniger guten oder schlechten Beziehung zu ihrem Vater gelebt, haben geglaubt, ihn irgendwie zu kennen, und auf einmal bricht für sie eine Welt zusammen. Und das macht in meinen Augen das Stück aus: dass sich hinter den sicheren Annahmen ein Vakuum verbirgt, dass es keine klaren Familienstrukturen gibt, dass man sich auf keine Grundwerte verlassen kann. Es ist alles möglich, es gibt keinen Halt. Dem liegen natürlich auch individuelle Schuldgefühle zugrunde, die aber schnell in gegenseitige Anschuldigungen, sich nicht genug um den Vater gekümmert zu haben, umgewendet werden.
Wie gehen Sie mit den etwas dürren Texten auf den Zetteln um, die der Vater hinterlassen hat?
Wir lassen den Zetteln erst einmal ihre Bedeutung als Hinterlassenschaften des Vaters. Die Schauspieler setzen sich damit ganz klassisch auseinander. Das wird dann aber immer absurder, weil auch die Texte auf den Zetteln absurder werden.
Ist das Stück nicht letztlich eine Komödie?
Im Gegenteil. Stockmann hat eine Tragödie geschrieben, die um die Frage des Nihilismus und seine Gefahren kreist. Das Stück hat allerdings gerade in den ersten beiden Szenen eine wahnsinnige Situationskomik im Umgang mit der Leiche, und die bedienen wir auch.
Und wie ist es mit dem Kitsch? Ist das Stück streckenweise nicht unerträglich pathetisch?
Mich hat gereizt, diesen pathetischen Momenten auf der Bühne auch gerechtzuwerden. Ich bin überzeugt, dass man da mit Respektlosigkeit am weitesten kommt. Einerseits lassen wir das Pathos zu. Passagen, die man beim Lesen eigentlich unerträglich findet, bekommen dann auf der Bühne plötzlich eine besondere Brillanz. In manchen Szenen greifen wir aber auch in die Klamottenkiste.
„Die Ängstlichen und die Brutalen“ | R: Torge Kübler | Theater der Keller | 9.(P)/13./14./21-23./29./31.3., 20 Uhr | 0221 31 80 59 | www.theater-der-keller.de
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