choices: Frau Velhagen, wie kam es zum Leitungswechsel bei Drama Köln?
Philine Velhagen: Der erste große Einschnitt kam 2007, als Malte Jelden an die Münchner Kammerspiele gegangen ist. Die großen Projekte wie die Temporäre Theatrale Zone, die Bespielungen des Hotels Barceló oder die Stückewettbewerbe waren damit vorbei. Oliver Krietsch-Matzura hat dann alleine weitergemacht und das Programm etwas kleiner gefahren. Drama Köln ist zwar bekannt dafür, dass es keinen festen Ort hat. Wenn man aber nur einmal im Jahr ein Projekt in einem Keller macht, dann läuft es nicht. Als Oliver sich immer stärker auf seine Arbeit im Hörfunkstudio konzentrieren wollte, habe ich ihm vorgeschlagen, Drama Köln zu übernehmen.
Welche Schwerpunkte werden Sie in Zukunft setzen?
Ich will weg von den Stücken und den Stückwettbewerben und den Akzent mehr auf Einzelprojekte und auf Projektentwicklungen legen. Unsere Sommerreihe „Wer ist denn schon bei sich zu Hause“ hat noch eine Art Mischform, weil Oliver schon einige Verabredungen wie das Stück „wir wütenden“ von Nora Mansmann getroffen hatte. Ich finde das auch spannend und will das für die Zukunft nicht ganz ausschließen, aber mein Interesse gilt eher Projekten im Stadtraum, bei denen man spartenübergreifend arbeitet und den Theaterbegriff ausdehnt.
Wird Drama Köln jetzt wieder häufiger Produktionen realisieren?
Es ist wichtig zu zeigen, dass es Drama Köln mit dieser Vielfalt, aber auch mit diesem Übergang zu Performances und Interventionen im Stadtraum noch gibt. Ich strebe eine kontinuierliche Arbeit an, ohne dass daraus gleich ein ganzjähriger Betrieb wird. Aber eine zweite feste Projektreihe oder Veranstaltung pro Jahr sollte es schon geben.
Gleich mehrere Projekte bei dem kleinen Festival „Wer ist denn schon bei sich zu Hause“ spielen im öffentlichen Raum. Was interessiert Sie daran?
Ich finde es interessant, auf diese Weise normale Abläufe zu stören. Wie die Menschen im Alltag aneinander vorbeigehen, ist oft sehr langweilig. Es fasziniert mich, mit kleinen Aktionen diese Routine zu stören. Und wenn man normale konventionelle Abläufe durchbricht, sorgt das für Irritation. Man merkt aber auch, dass die Leute oft sogar sehr gerne Kontakt aufnehmen.
Welche Strategien der Intervention werden im Festival zu sehen sein?
Ich habe vor allem Produktionen eingeladen, die ich selber sehen möchte. Alle Projekte arbeiten mit Live-Audiotechnik, die einerseits eine Intimität des Sprechens herstellen und zugleich das Öffentliche als Filmkulisse erscheinen lassen.Katharina Sandner und Julia Dick vonkatze und krieg gehen in „Wenn die Sonne untergeht“ mit der Formel „Wir könnten“ an den Abend heran. Zum Beispiel „Wir könnten den Jungen fragen, ob wir an seinem Eis lecken dürfen“. Dann ergibt sich daraus eine Geschichte, die aber komplett improvisiert ist. Tina Saum von der flanery in Stuttgart wiederum arbeitet bei ihrer Stadtführung „To become a stranger“mit der Synästhetikerin Ruth Regehly zusammen. Mit Hilfe der besonderen Art der Wahrnehmung der Synästhesie werden die Zuschauer zu Touristen in ihrer eigenen Stadt. Es geht darum, sich fremd zu machen und die Stadt anders wahrzunehmen.
Und Ihre Produktion „we watch you watch“?
„We watch you watch“ ist eher eine Versuchsanordnung. Bilder oder Gänge sind nicht festgelegt, natürlich gibt es eine Dramaturgie und einen Ablauf oder auch festgelegte Musiken. Die Zuschauer sitzen auf einem Platz, während die Schauspieler, die man nicht sieht, die Gedanken der Passanten synchronisieren. Das ist inhaltlich gekoppelt an die Debatte vom gläsernen Menschen oder der Freiwilligkeit, mit der die Menschen ihre Daten zur Verfügung stellen. Die Schauspieler sind wie menschliche Suchmaschinen, die die Gedanken abscannen nach Verwertbarem.
Wie ändert sich bei solchen Projekten die Arbeit mit Schauspielern?
Bei „we watch you watch“ sieht man die Schauspieler den ganzen Abend nicht, weil sie wie in einer Art Live-Hörspiel agieren. Erst beim Applaus werden sie sichtbar. Das ist eine Herausforderung. Die Schauspieler werden hier zu Performern und Mitautoren, die die Gedanken der Passanten, die unvermittelt den Platz betreten, improvisieren müssen. Das hat mit klassischer Figuren- oder Rollenarbeit nichts zu tun. Man baut natürlich darauf auf, dass die Schauspieler das irgendwann gelernt haben und sich, wenn da plötzlich ein alter Mann steht, in die Gedanken dieses Mannes hineinversetzen können. Man profitiert also von der herkömmlichen Theaterarbeit.
Manche Stücke spielen auch in Privatwohnungen. Wie verändert das den Blick?
Olinka Feldekova macht unter dem Titel „Martha Richard“ ein Projekt in einem Haus in Bickendorf. Es geht um die Vision eines feministischen Gesellschaftsentwurfs, in dem eine Frau einen Mann einsperrt, also die Gegenüberstellung von männlicher und weiblicher Perspektive. Dadurch, dass wir in Privaträume gehen, kann man noch mal eine andere Atmosphäre schaffen als in der Blackbox. Es gibt aber auch Gruppen, die die Zuschauer-Akteur-Trennung komplett aufheben und die Zuschauer selbst zu Mitspielern werden lassen. Bei Lignas „Ödipus der Tyrann“ werden die Zuschauer in drei Gruppen geteilt, gehen gemeinsam in eine große Wohnung und geraten dann in ödipus-ähnliche Situationen. Mir war wichtig, dass es dieses private Umfeld ist, also zu jemandem nach Hause zu kommen, andere Wohnungen, andere Lebensentwürfe und Perspektiven zu sehen. Das ist die große Klammer des Festivals.
Sie haben lange in München gearbeitet. Konzentrieren Sie sich nun ganz auf Köln?
Ich habe in München lange mit Barbara te Kock gearbeitet, wir haben uns inzwischen allerdings künstlerisch etwas auseinanderentwickelt. Ich werde weiter dort Projekte realisieren und habe auch für dieses Jahr eine Förderung bekommen.
„Wer ist denn schon bei sich zu Hause“ | Festival an verschiedenen Spielorten | 10.-19.8. | www.drama-koeln.de
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