Weihnachten ist das Fest, bei dem alle in Geberlaune sind: Ob bei den Geschenken oder den Ohrfeigen, bleibt ja sowieso alles in der Familie. Und wenn das der Fall ist, kann man doch auch gleich mal über Kindesmissbrauch reden – dachte sich vermutlich das Duo Angie Hiesl und Roland Kaiser, die mitten auf dem Chlodwigplatz ihre sitespecific-Performance „Stillleben – und leise schlummert …“ aufgebaut haben. Da steht Tänzer Mack Kubicki in Kamelhaarmantel am Übergang zur Merowingerstraße und hält ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin ein Vergewaltiger“ vor sich. Und Tänzerin Fa-Husuan Chen bindet gegenüber von Merzenich einen Blumenkasten an einen Baum, bestückt ihn mit Haaren und Christbaumkugeln, legt ein blutbespritztes Höschen und Hemdchen darunter und entzündet ewige Lichter. Gewalt paart sich mit Fetischisierung, Weihnachtsdeko mit rituellem Gedenken.
Mit dem dritten Teil der Serie „urban-city-urban“ wenden sich Hiesl/Kaiser erstmals einem harten gesellschaftspolitischen Thema zu. Blieben die voran gegangenen Teile über Kleidung und Stadt sowie Ordnungssysteme eher abstrakt, geht es jetzt zur Sache. Wie üblich arbeitet das Duo mit szenischen Irritationsmomenten, die in unser gewohntes Alltagsbild implantiert werden und so zum Nachdenken anregen. Das berührt, wenn die beiden Tänzer mit Aktenordnern vorm Gesicht auf die wiederkehrende Frage „Warum?“ mit abenteuerlichen Begründungen wie „Weil die Straßenbahn zu spät ist“ oder „Weil diese Frau eine Nutte ist“ aufwarten. Das geht peinlich daneben, wenn Mack Kubicki die Worte „Jude“ oder „Muslim“ auf Essteller schreibt und dann mit Springerstiefeln darauf herumtrampelt: Eine bedenklich plumpe Anspielung auf die sog. „Reichskristallnacht“.
Drastisch geht es dann in einem mit Planen abgesperrten Geviert zu, in dem der Boden mit Plüschtieren bedeckt ist. Fa-Husuan Chen steckt kopfüber in einem Berg von Plüschtieren, so dass nur ihre netzbestrumpften Beine samt High Heels herausragen. Mack Kubicki zieht währenddessen eine Puppe nackt aus, fesselt sie, traktiert sie mit dem Messer und fotografiert sich dabei. Nicht alles an diesem klirrend kalten Nachmittag überzeugt, doch ähnlich wie beim „Haare“-Projekt hat die Unmittelbarkeit und Direktheit des Themas dem Performanceduo gut getan.
„Stillleben – und leise schlummert …“ von Angie Hiesl und Roland Kaiser | keine weiteren Termine | www.angiehiesl.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kunst greifbar machen
Das Palais Temporär und die performativen Künste in Köln – Spezial 09/18
Tischsitten to go!
Outdoor-Performance „Forks in the City“ von Angie Hiesl + Roland Kaiser – Auftritt 09/18
So wie wir sind
tanz nrw 17: „Fat Facts“ von Angie Hiesl und Roland Kaiser – Bühne 05/17
Das Patriarchat bei den Eiern
„Katharina von Bora – Von der Pfarrfrau zur Bischöfin“ im Bonner Frauenmuseum – Kunst 04/17
Der Ort des Unvorhersehbaren
Tanz auf dem Bordstein unserer Städte – Tanz in NRW 12/16
Wie man das Wasser zum Rhein trägt
Hiesl und Kaiser bieten im Rheinauhafen eine unbeschwerte Performance – Tanz in NRW 07/15
Der Aufstand der Poller
Die Tanz-Performance „Dressing the City und mein Kopf ist ein Hemd“ von Angie Hiesl und Roland Kaiser – Bühne 08/11
Kein Stillstand
Aufbruchsstimmung in der Kölner Tanzszene - Tanz in NRW 09/11
Klamauk und Trauer
„Die Brüder Löwenherz“ in Bonn – Theater am Rhein 01/25
Ein Bild von einem Mann
„Nachtland“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24