Dystopien boomen. Das beweist nicht zuletzt die extrem erfolgreiche und gefeierte Netflix Serie „Black Mirror“, die seit nunmehr vier Staffeln Schreckensszenario an Schreckensszenario reiht. Günter Blamberger, Professor an der Uni Köln weist in seinem Aufsatz „Über die Aktualität des Zukunftsdenkens“ auch auf einen anderen Umstand hin: Die fehlenden utopischen Gegenentwürfe. Während sich in der klassischen Moderne noch utopische und dystopische Entwürfe in der Literatur die Waage hielten, leben wir seit dem Scheitern der 68er in „Melancholie und Handlungshemmung“. Seit dem 11. September habe sich eine allgemeine Misstrauensstimmung und die „Universalisierung der Verdachtskultur“ etabliert. Das alles liest sich fast schon selbst wie eine Dystopie.
Utopien werden nicht mehr in der Kunst hervorgebracht. Der Ort der freudigen Zukunftserwartung befindet sich heute im Silicon Valley. Facebook, Google und Co. träumen vom gläsernen Menschen und künstlicher Intelligenz. Das wiederum weckt das Misstrauen der Kunstschaffenden. Die nächste Dystopie scheint vorprogrammiert. Doch die Theaterakademie entzieht sich mit ihrer Inszenierung „HalenaPrimus“ dieser Logik.
Auf der Studiobühne lässt sich die Zukunft recht farbenfroh und fröhlich an. Das Apple-artige Unternehmen HalenaPrimus stellt menschenartige Roboter her. Diese „Heloten“, abgeleitet von den im antiken Sparta verwendeten Wort für öffentliche Sklaven, sollen die Menschen endgültig von der Arbeit befreien. Der Zuschauer sieht den Forschern hier bei der täglichen Arbeit zu. Noch sind einige Bugs und Fehlprogrammierungen vorhanden. Die Modelle „Phoebie“ (Sophie Roßfeld) und „Hektor“ (Tom Raczko) gehorchen den Befehlen ihrer Programmiererinnen Iris (Sabina Kukuk) und Cissy (Sabrina Flöhl) nicht immer, was für Komik und Slapstick sorgt. Für die verträumte und arbeitsscheue Iris ist das aber sowieso kein Problem. Solange die Tanzapp der Heloten funktioniert und der Programmiererin ihre Arbeit kurzweiliger macht, ist alles in Butter.
So weit, so utopisch. Als die Revoluzzerin Kora (Julia von Maydell) allerdings die Firma unterwandert, um die Heloten zu befreien und durch einen Zufall den Heloten Theia (Natalie Buba) Bewusstsein und freien Willen einimpft, nimmt das Stück dramaturgisch Fahrt auf. Intensiv und kontrovers werden hier zutiefst philosophische Fragen verhandelt, denen wir vermutlich auch irgendwann gegenüberstehen werden: Ist die künstliche Intelligenz Segen oder Fluch? Was ist das eigentlich, der Mensch? Und was wird aus ihm, wenn man ihn haargenau reproduzieren kann? Ist der Mensch gar ein Auslaufmodell? Durch die Heloten, dem Menschen 2.0, obsolet geworden?
Dass man auf der Studiobühne keine Antwort auf diese Fragen erhält, mag kaum verwundern. Verwundern aber schon, dass sich das junge Ensemble um Regisseur Andrè Erlen sich mit diesen großen Fragen nicht verhebt. Organisch werden sie in die Handlung eingewoben. Und nie wird der Versuchung nachgegeben, sich der dystopischen Schwarzmalerei zu ergeben. Der Preis für diesen gewagten und kaleisdoskopischen Ritt durch die großen Fragen der Zukunft ist die dramaturgische Zugkraft des Stückes. Zu viele Figuren werden eingeführt, zu viele Wendungen und Kurven bestimmen das Bild, als dass der Zuschauer wirkliche Sympathien mit den Figuren entwickeln kann. Trotzdem liefert die Theaterakademie mit „HalenaPrimus“ eine mutige und denkwürdige Abschlussarbeit ab, auch wenn es für eine Utopie noch nicht ganz reicht.
„HalenaPrimus“ | R: André Erlen | 19.1.-23.1., 17.-18.3. 20 Uhr | Studiobühne Köln | 0221 470 4513
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