Obwohl sie schon etwas abgetragen sind, sind sie sehr bequem. Oder gerade deswegen. Geschmeidig umschließen sie die Fesseln und strahlen noch etwas Wärme ab – gerade erst wurden sie von einer jungen Frau zurückgebracht. Es sind die Schuhe von Eskandar. Mit sonorer Stimme beginnt er, von seinem Leben zu erzählen, während an diesem heißen Spätsommertag lachende Kinder zwischen ihren Eltern und dem großen Springbrunnen hin und her rennen.
Eskandars Erzählung lässt diese Eindrücke in den Hintergrund wandern. Sie handelt von einem Mann, der seit seiner Geburt blind ist. Seine Welt besteht aus Geräuschen und Gerüchen. Auf dem Ebertplatz riecht es vor allem nach warmem, nassem Asphalt.
Der hellbraune Container, der hier seit kurzem steht, trägt den Schriftzug „A Mile in My Shoes“. Seine Fassade ist so verkleidet, dass er an einen überdimensionierten Schuhkarton erinnert, inklusive Deckel und Etikett mit Strichcode an der kurzen Seite. Er ist ein Projekt des Empathy Museums, das von der Londoner Künstlerin Clare Patey gegründet wurde, und bezeichnet sich selbst als „interaktives Schuhgeschäft“. Es bietet Menschen die Möglichkeit, in fremde Schuhe zu schlüpfen. Dabei geht es nicht um Konsum, sondern um eine Übung in Anteilnahme.
Während die Besucher die Schuhe einer Person tragen, hören sie über einen MP3-Player deren Geschichte. „Die Grundidee ist, Menschen durch Empathie näher zusammenzubringen“, so Projektleiterin Billie-Marie Wempe. „Das Reinhören und Reinfühlen ist eine sinnliche Erfahrung, die einem einen besonderen Zugang eröffnet.“ Wer lieber nicht hineinsteigen möchte, kann die Schuhe auch einfach nur festhalten oder ansehen.
A Mile in My Shoes befindet sich auf Tournee. Es war schon in Brasilien und Australien und wird demnächst in Italien einen Stop einlegen. „Überall dort, wo Menschen sind, kommt es an, da wir es uns eigentlich alle wünschen, näher zusammen zu rücken“, sagt Wempe. Die Berichte der ehemaligen Besitzer sind so unterschiedlich wie ihr Schuhwerk. Sie erzählen von Flucht, Sexarbeit oder atypische Familiengeschichten.
In Köln ist das Sommerblut Kulturfestival der Kooperationspartner des Projekts. Es hat 20 Geschichten von Menschen aus der Stadt gesammelt, die durch ein paar Stories von Orten ergänzt werden, an denen das Projekt zuvor Halt gemacht hat. „Die Grundidee und der Schuhkarton kamen aus London, aber wir haben ihn bestückt“ so Wempe. Auf diese Weise reist A Mile in My Shoes durch die Welt.
Eine Besonderheit, die es bisher nur in Köln gibt, sind zwei Geschichten von Gehörlosen, die sie in einem Video mit Untertiteln in Gebärdensprache erzählen. Bei der Eröffnung empfanden manche Besucher dies als hinderlich, weil sie die Geschichten lesen mussten. „Es ist interessant, was bereits eine Herausforderung für jemanden darstellen kann, der eigentlich alle Sinne nutzen kann“, sagt Wempe. Sie habe dann darauf hingewiesen, dass es Menschen gibt, die mit dieser Einschränkung dauerhaft umgehen müssen. Das regt zum Nachdenken an – und genau darum soll es schließlich gehen.
A Mile in My Shoes | bis 3.10. Mi-Fr 15-19 Uhr, Sa & So 13-19 Uhr | Ebertplatz | www.sommerblut.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mehr Raum für Kultur
Mouches Volantes am Ebertplatz – Kunst 01/23
„Angewandte Stadtentwicklung von unten“
Stadtaktivistin Meryem Erkus über den Ebertplatz – Interview 07/21
„Schönheit in unscheinbaren Dingen“
Zrinka Budimlija über „Legenden Kölner Frauen“ am Ebertplatz – Interview 11/20
Hell und dunkel
Ebertplatz Diary: Treppenkunst, Ausstellungen und Musik – Spezial 09/19
Leben und Tod
Ebertplatz Diary: Critical Rave, Totschlag und #metoo – Spezial 09/19
Blind Sex-Date
Mittendrin: Angstraum Köln beim Impulse Theaterfestival – Spezial 06/19
Lebst du schon oder isst du Eis?
Wenn die freie Szene mitmischt: „The Streets Are Ours“ – Spezial 06/19
Zugangskontrollen und Fremdkörper
Rolltreppenkunst am Ebertplatz – Kunst 05/19 (mit Video)
Wenn die Decke auf den Kopf fällt
Stefanie Klingemanns Installation „Sparen“ in der artothek – Kunst 01/19
Kreativ für den öffentlichen Raum
Rolltreppen am Ebertplatz werden von Künstlern umgestaltet – Kunst 08/18
Gestrandete Arche
Das Kölner Theater der Keller muss sein Haus verlassen – Theater in NRW 08/18
Neuer Startschuss am Ebertplatz
„Wasser marsch!“, spielende Kinder und jede Menge Ideen – Spezial 07/18
„Was ist ,analoger‘ als der menschliche Körper?“
Kuratorin Elke Kania über „Zeit-Bilder.“ im Aachener Kunsthaus NRW Kornelimünster – Interview 01/25
Mehr als Bilder an der Wand
„Museum der Museen“ im Wallraf-Richartz-Museum – kunst & gut 12/24
Vorgarten der Unendlichkeit
Drei Ausstellungen zwischen Mensch und All – Galerie 12/24
Vorwärts Richtung Endzeit
Marcel Odenbach in der Galerie Gisela Capitain – Kunst 11/24
Mit dem Surrealismus verbündet
Alberto Giacometti im Max Ernst Museum Brühl des LVR – kunst & gut 11/24
Außerordentlich weicher Herbst
Drei Ausstellungen in Kölner Galerien schauen zurück – Galerie 11/24
Fragil gewebte Erinnerungen
„We are not carpets“ im RJM – Kunst 10/24
Geschichten in den Trümmern
Jenny Michel in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach – kunst & gut 10/24
Ein Himmel voller Bäume
Kathleen Jacobs in der Galerie Karsten Greve – Kunst 09/24
Leben/Macht/Angst
„Not Afraid of Art“ in der ADKDW – Kunst 09/24
Lebenswünsche
„Körperwelten & Der Zyklus des Lebens“ in Köln – Kunst 09/24
Die Freiheit ist feminin
„Antifeminismus“ im NS-Dokumentationszentrum – Kunstwandel 09/24
Atem unserer Lungen
„Body Manoeuvres“ im Skulpturenpark – kunst & gut 09/24